Vorsicht: Zensuren schaden dem Kind!

Autoren einer heute veröffentlichten Studie sprechen sich für Warnhinweise auf Zeugnissen aus und fordern künftig differenziertere Bewertungen

VON RÜDIGER-PHILIPP RACKWITZ

Es ist die Zeit der Tränen, und es ist die Zeit der von Großeltern zugesteckten Zehn-Euro-Scheinchen: Bald bekommen rund zehn Millionen Schüler und Schülerinnen in Deutschland ihre Jahreszeugnisse. Die Zensuren darin bestimmen zum einen, ob jemand sitzen bleibt. Zum anderen entscheiden sie bei zahlreichen Viertklässlern über die weitere Schullaufbahn. Und rund eine Million Schulabsolventen werden sich mit ihren Zeugnissen auf die Suche nach einem Ausbildungs- oder Studienplatz machen.

Angesichts dieser großen Einflüsse von Zensuren auf die Zukunft eines Kindes ist eine heute vom Grundschulverband veröffentlichte Studie alarmierend: Der Untersuchung zufolge sind Schulnoten weder objektiv noch gerecht. Darüber hinaus benachteiligen sie sozial schwache Schüler und stehen vor allem in der Grundschule einer positiven Entwicklung der Schüler im Wege.

Daher schlägt die Arbeitsgruppe Primarstufe der Universität Siegen, die die Studie verfasst hat, süffisant vor, Zeugnisse zukünftig mit folgendem Hinweis zu versehen: „Die Kultusminister warnen: Noten können die Entwicklung Ihres Kindes gefährden“. „Durch den Vergleich mit anderen würden die Zensuren schwächere Schüler entmutigen, statt ihre Fortschritte zu honorieren und sie zu weiteren Anstrengungen anzuspornen“, sagt der Leiter der Studie, Hans Brügelmann.

Im Detail versucht die Studie Wissenschaftlichkeit in einen lang andauernden ideologischen Grabenkampf über die Abschaffung von Zensuren zu bringen. „Noten sind nicht objektiv, sie sind nicht vergleichbar und zu pauschal“, sagt Brügelmann. Laut seiner Studie beeinflussen „unterschiedliche Maßstäbe“ der LehrerInnen ihr Urteil.

Das heißt: Was in der einen Klasse eine eins ist, kann in einer anderen gerade mal eine drei sein, denn LehrerInnen bewerten nach unterschiedlichen Kriterien und sie legen unterschiedliche Maßstäbe an. Zudem beeinflussen aber auch völlig leistungsunabhängige Aspekte wie „Sprachstil oder Sozialverhalten des Schülers“ und „persönliche Sympathien“ das Urteil der Lehrperson, so die Studie. Nachgewiesen seien zudem „systematische Verzerrungen durch Gruppenmerkmale wie Geschlecht, soziale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit“.

Noten sagen deshalb nichts über die individuelle Leistungsentwicklung, über die Stärken und Schwächen und über das Leistungspotenzial des einzelnen Schülers aus. Und es gelingt ihnen nur schwer, zukünftiges Leistungsvermögen, zukünftige Schulleistungen und somit die zukünftig „passende“ Schulform treffend vorherzusagen.

Denn mit den Pisa-Daten lässt sich nachweisen, dass die stärksten 10 Prozent der HauptschülerInnen im Gymnasium zum mittleren Leistungsbereich gehören würden. Umgekehrt zeigen die Daten aber auch: Jugendliche, die im Verlauf ihrer Schulzeit von einer höheren auf eine niedrigere Schulform wechseln mussten, hatten zum Großteil Grundschulempfehlungen für jene Schulform erhalten, an der sie letztendlich scheiterten. Dabei ist bei gleichen Leistungen am Ende der Grundschulzeit die Wahrscheinlichkeit, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, umso größer, je höher der soziale Status der Eltern ist.

Das Fazit der Siegener Forschergruppe ist daher: „Es gibt kein Verfahren, Leistungen zu erheben, das valide, objektiv und verlässlich genug wäre, um Einzelfallentscheidungen über Bildungskarrieren zu rechtfertigen. Lehrerurteile sind fehleranfällig, methodische Verbesserungen nur begrenzt möglich.“

Dies bedeutet aber auch, dass Ziffernoten neben der nur unzureichend und ungerecht erfüllten Selektionsfunktion das Recht des einzelnen Kindes auf Chancengleichheit, Förderung und bestmögliche Bildung verletzen. Gleichzeitig gehören Noten zu den stärksten Auslösern von Schulangst und Schulstress: Die Lernfreude vom Kindergarten zur Grundschule steige an, so die Siegener Forscher. Schon über die vier Grundschuljahre fällt sie dann aber kontinuierlich ab, während gleichzeitig die Versagensangst steigt.

Die von Notenverfechtern immer wieder ins Feld geführte Behauptung, Ziffernoten seien ein unverzichtbarer Lernanreiz und Leistungsmotivator, wird dagegen durch Befunde aus Ländern widerlegt, deren Schulsysteme in internationalen Vergleichsstudien besser abschneiden als das deutsche. Dort werden Noten erst in höheren Klassen erteilt, und die SchülerInnen sind insgesamt erfolgreicher, wie etwa in Schweden, Finnland oder auch im deutschsprachigen Südtirol. Dort besuchen alle SchülerInnen bis zur 8. Klasse eine gemeinsame Schule, bekommen bis dahin keine Noten, und bis zum Abitur wird auf eine vergleichende Notengebung verzichtet. Sitzen bleiben gibt es nicht (siehe Kasten), dafür aber Bewertungsbögen, die dazu dienen, den einzelnen Schüler mit sich selbst zu vergleichen und dessen Lernfortschritte und Leistungsbereitschaft individuell zu beurteilen. Dabei kann ein „sehr gut“ bei dem einen etwas völlig anderes bedeuten als bei einem anderen.

Offensichtlich kommen die Südtiroler SchülerInnen mit diesem Bewertungssystem gut zurecht, denn ihre Lern- und Leistungsmotivation scheint es nicht zu mindern: Bei Pisa 2003 stand Südtirol im Lesen ganz oben auf dem Siegertreppchen, belegte in Mathematik den fünften Platz und schlug den deutschen „Spitzenreiter“ Bayern um Längen.

Als Alternative zu Ziffernoten werden in der pädagogischen Fachliteratur Verbalbeurteilungen vorgeschlagen, wie sie in der Regel in den beiden ersten Klassen in der Grundschule üblich sind. Doch auch sie, so das Ergebnis der Siegener Forscher, leiden vielfach unter den gleichen Nachteilen wie Ziffernoten: Auch sie sind wenig objektiv und legen unterschiedliche Maßstäbe an. Immerhin erlauben die Verbalbeurteilungen, die Leistungen und deren Entwicklung detailliert zu beschreiben, individuelle Stärken hervorzuheben und auf Schwächen aufmerksam zu machen – theoretisch. Denn bisher fehle es den LehrerInnen oftmals an geeigneten Kompetenzen, um verschiedene Leistungen und deren Entwicklung zu erfassen, so die Studie. Deshalb stammen in der Praxis die hübschen Formulierungen oftmals nicht aus des Lehrers Feder, sondern wurden mit wenigen Mausklicks dank spezieller Zeugnissoftware generiert. Die Zifferzensuren werden auf diese Weise einfach in Textbausteine „übersetzt“.

Als Konsequenz ihrer Ergebnisse empfiehlt die Siegener Forschergruppe, Ziffernoten durch differenzierte Formen der Dokumentation und Bewertung von Leistungen zu ersetzen. „Beurteilungen müssten den SchülerInnen helfen, ihren eigenen Lernstand besser einzuschätzen, und sie müssten ihnen gezielte Anregungen für die weitere Arbeit geben“, erklärt Axel Backhaus, Mitglied der Arbeitsgruppe.

Dabei sollten die SchülerInnen durch Selbsteinschätzungen und gemeinsame Zielvereinbarungen bei der Bewertung einbezogen werden. Dazu gebe es bereits „ermutigende Erfahrungen“, erläutert Brügelmann.