Friedlich explodierende Blume

Mit den Wechselwirkungen zwischen japanischer und deutscher Kunst befasst sich die Ausstellung „Berlin – Tokyo“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Leider ist die Materialfülle zu groß, als dass neue Einsichten möglich wären. Dennoch ragen einzelne Arbeiten und Arrangements heraus

Eine neue Qualität der künstlerischen Nähe ist mit dem Beginn der Fluxus-Bewegung zu spüren

VON HENRIKE THOMSEN

„Pink Flag“ von Daniel Richter: Hunde zerfetzen eine Fahne vor einer Mauer und einem Hochhaus mit grellbunten Neonfarben. Zwei Pferde tänzeln kampfeslustig umeinander, zwei Männer ringen; einer von ihnen ist von Kopf bis Fuß blau mit weißen Sternen bemalt. Kinder beobachten die Szenerie von einer Auffahrt aus, im Vordergrund sitzt unbeteiligt ein Schwarzer mit einer weiteren abgerissenen Flagge. „Bee My House“ von Shintaro Miyake: Drei wabenförmige Löcher sind in den Boden eingelassen, Buntstifte liegen unten auf dem Grund, an den Rändern hängen Bienen-Zeichnungen wie aus einem „Malen nach Zahlen“-Buch. Sie scheinen das Übergangsstadium zu der Plastik zu bilden, die wenige Meter weiter von der Decke pendelt: Die Welt als große Honigkugel, gesättigt in Braun und Goldtönen; larvenförmige Gebilde im Boden versprechen weitere fruchtbare Entwicklungen.

Nimmt man die beiden Arbeiten von Richter und Miyake als augenfällige Pole zu Beginn der Ausstellung „Berlin – Tokyo“ in der Neuen Nationalgalerie, so scheinen die Leitmotive für den Rundgang klar: Individualismus versus Funktionalität, Freiheit versus Geborgenheit, Raum versus Enge, Bruch versus Kontinuität. Themen, die in der Geschichte der Deutschen und Japaner und in der Geschichte ihrer Hauptstädte eine maßgebliche Rolle spielen. Berlin, ein Inbegriff freier persönlicher Entfaltung und Selbstverwirklichung, die Stadt der breiten Boulevards und Brachen, hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg japanische Künstler angezogen. Tokio seinerseits ist ein Mythos hochgradig verdichteter, durchökonomisierter Urbanität, in der man nur mit äußerster Disziplin, Fleiß und Anpassung bis hin zur Selbstverleugnung besteht. Fasziniert versuchen westliche Künstler seit langem, das Geheimnis dieses Mechanismus zu ergründen.

Die Szenerien von „Pink Flag“ und „Bee My House“ verheißen eine skeptische Untersuchung. Wo Richters Blick an den Preis der Freiheit erinnert – an die Härte ihrer Dialektik und die Einsamkeit, in die sie das Individuum entlässt –, erobert sich Myake optimistisch Raum. Ein weniger existenzieller als vielmehr selbstironischer Zweifel bleibt freilich auch hier, ob man als Künstler überhaupt etwas Eigenes schaffen kann. Es hätte der Gewinn der Ausstellung sein können, die anlässlich eines jüngst zu Ende gegangenen Schaulaufens deutscher Kultur in Japan kreiert wurde und deren Vorgänger „Tokyo – Berlin“ im Mori Art Museum zu sehen war, solchen Fragen nachzuspüren, die sowohl in der deutschen Romantik als auch in der japanischen Meister-Schüler-Tradition zentral sind. Doch leider wirkt die Schau nie wieder so stimulierend wie zu Beginn in der oberen Halle, die der Architekt Toyo Ito zu einer Hügellandschaft umgestaltet hat. Die traumverlorenen Bilder von Corinne Wasmuth und ein unterirdischer Maulwurfsbau aus Schlafzellen von Tsuyoshi Ozawa bilden weitere Höhepunkte: Ein physisch erfahrbarer Kontrast zwischen der in leuchtendes Türkis und Gelb getauchten Sehnsucht nach geistiger und emotionaler Weite einerseits und der Reduktion des Menschen auf seine schiere Funktion, auf ein im Boden hockendes Tier andererseits.

Die Mühsal beginnt im Untergeschoss. Viele spannende bis hervorragende Werke sind versammelt und in historischen Kapiteln übersichtlich präsentiert. Doch zu breit wird zu viel Material gezeigt. Der Beginn der gegenseitigen Annäherung, seit sich Japan in der Meji-Epoche im späten 19. Jahrhundert nach mehr als 200 Jahren Abschottung wieder international öffnete; der erste Höhepunkt der wechselvollen Rezeption vor dem Ersten Weltkrieg im Zeichen des Expressionismus, Dadaismus und Bauhaus; die parallele Erfahrung des verlorenen Zweiten Weltkriegs und der Zerstörung der Städte, die Suche nach einer neuen Identität im Schatten der neuen Supermacht USA, die mit Abstraktem Expressionismus und Pop Art auch den Kunstmarkt dominierte: Aus der Materialflut bleiben am nächsten Tag nur Details im Gedächtnis. Adolph von Menzels „Japanischer Maler“ von 1885, der den Japaner mit deutlich negroiden Zügen ausstattete, ein Hinweis auf die pauschale exotistische Wahrnehmung und unterschwellige Angst vor allem Fremden. Konshiro Ochis „Leiden der nackten Gestalt“ von 1914, der die Ästhetik des Androgynen und Ekstatischen kühn auf den Punkt bringt. Ein ausgezehrter Spitzentänzer evoziert sowohl die Engel-Dämonen von Michail Wrubel wie die Statuen von Giacometti. Der Entwurf von Hermann Ende und Wilhelm Böckmann für das Parlament in Tokio, ein neobarocker Koloss, angelegt zwischen Berliner Reichstag und Neuem Palais in Potsdam, verweist auf den erfolgreichen Export des wilhelminischen Repräsentationsstils. Schließlich Ryushi Kawabatas „Explodierende Blume“ von 1945, die Japans Zusammenbruch reflektiert und dennoch merkwürdig friedlich und dekorativ wirkt.

Eine neue Qualität der künstlerischen Nähe spürt man mit dem Beginn der Fluxus-Bewegung ab den 1960er-Jahren. Joseph Beuys und Nam June Paik zeigt ein Video in gemeinsamer Aktion: Paik improvisiert am Klavier, während Beuys rhythmisch dazu atmet. Pianoläufe und punktierende Mundgeräusche verschränken sich zu einem unmittelbaren Ausdruck von Kunst als existenziellem „Lebensmittel“ jenseits aller kulturellen Codierung. Der US-Amerikaner Emmett Williams, der 1980 nach Berlin kam, ist mit einer wunderbaren Grafikserie vertreten. In ihr verdichten sich japanische Schriftzeichen kaleidoskopisch, bis sie in einem dunkelblauen, farbig perforierten Nachthimmel endgültig entrückt verschmelzen. Zwei großformatige Rauminstallationen von Yayoi Kusama und Tatsuo Miyajima lohnen zum Schluss: In Kusamas „Dots Obsession“ wie in Miyajimas „Lattice“ scheint die Zeit aufgelöst, das eine Mal in ihrem knallroten Universum voller weißer Punkte und riesiger gerundeter Körper, das andere Mal in seinem schwarzen Loch, das die Uhren verrückt spielen lässt.

Und für alle, die bei moderner japanischer Kultur immer nur an Comicfiguren und Trickanimation gedacht haben, wartet am Ausgang eine überbordende Manga-Bibliothek als augenzwinkernder Rausschmeißer. Für die, die größere Erkenntnisse erhofften, bleibt die Schau weit unter ihren Möglichkeiten.

Bis 3. Oktober, Katalog (Hatje Cantz Verlag) 35 €