Apokalypse light

Auf Reisen (2): Doris Lessing schreibt mit ihrem neuen Buch „Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund“ ihre eigene Fanfiction

von SEBASTIAN DOMSCH

Unter Fanfiction versteht man fiktionale Texte, die sich bekannter Figuren wie Harry Potter oder literarischer Welten wie der „Star Trek“-Serie bedienen, um damit eigene Geschichten zu entwickeln. Neben klassischen Formen wie der Parodie kann es sich dabei auch um Fortschreibungen, Umdeutungen oder so genannte Spin-offs handeln, in denen Nebenfiguren ins Zentrum der Aufmerksamkeit wandern. Fanfiction hat vor allem im Internet gewaltig Konjunktur, denn jeder Fan, wenn er nur genug „Star Trek“ oder „Harry Potter“ gelesen oder gesehen hat, kann hier zum Autor werden, ohne wirklich originell werden zu müssen. Rechtlich ist das Ganze eine Grauzone, von manchen um ihr Franchise besorgten Autoren bekämpft, von anderen geduldet oder sogar gefördert. Dass eine Autorin wie die südafrikanische Schriftstellerin Doris Lessing in „Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund“ ihre eigene Fanfiction schreibt, ist allerdings ungewöhnlich.

Vor einigen Jahren kehrte Lessing mit „Mara und Dann“ zum Science-Fiction-Genre zurück, das ihr bereits in den Achtzigerjahren einigen Erfolg gebracht hatte. In ihrer neuen Öko-Dystopie hat eine Eiszeit ein paar Jahrtausende nach unserer Zeit Europa komplett unbewohnbar gemacht, das Mittelmeer ausgetrocknet und die verbliebenen Menschen nach Afrika getrieben, das jetzt Ifrik heißt. Der Klimawandel in Verbindung mit Kriegen ließ die hochtechnologisierte Zivilisation untergehen, nun leben unsere Nachkommen in reichlich primitiven Verhältnissen, umgeben von Ruinen und ein paar technischen Artefakten, die sie nicht verstehen. Als die Eiszeit zu Ende geht und im Süden von Ifrik eine tödliche Dürre ausbricht, machen sich die Geschwister Mara und Dann zu Fuß auf den Weg nach Norden, durch Entbehrungen, Hunger, Sklaverei und Kriege.

Um diesen beschwerlichen, sich über Jahre hinwegziehenden Weg zweier Kinder ging es in Lessings fast ebenso mühsamem Buch, das aber, wenn man sich durch die Durststrecken besonders des ersten Drittels gekämpft hatte, eine geradezu mythische Wucht entwickelte. Die Reise der zwei Kinder bildete das archetypische Gerüst, über dem Lessing eine eindrückliche Vision der Menschheitsdämmerung errichtete.

Lessings Fortsetzung ihrer eigenen Geschichte, deren derivative Natur man bereits aus dem Titel herauszuhören vermeint, hat paradoxerweise noch immer diese Reise zum heimlichen Thema, obwohl sie längst vorbei ist. Kaum eine Seite vergeht ohne eine Variante des „Weißt du noch, damals, als wir …?“. Fast verträumt scheint Lessing sich in ihrer vergangenen erzählerischen Leistung zu verlieren und vergisst dabei ein ums andere Mal, etwas Neues zu schaffen. Auch in der „Geschichte von General Dann …“ ist das Erzählen von Erschöpfung geprägt, aber es ist nicht die zum Mitleid anregende fortschreitende Erschöpfung des gerade Leidenden, sondern die lähmende Erschöpfung des sich von vergangenen Anstrengungen Erholenden. Doch ein Roman, der gänzlich unironisch ist, sollte nicht wie ein Sanatoriumsaufenthalt geschrieben sein.

Dann hat den nördlichen Rand von Ifrik erreicht, aber eine kleine Sehnsucht treibt ihn noch, und so macht er sich auf den Weg, um von einer Insel im Mittleren Meer mit eigenen Augen den Beginn des Eispanzers über Europa, jetzt Yerrup, zu sehen. Dorthin zu gelangen ist zwar beschwerlich, aber natürlich nichts, verglichen mit seiner Odyssee durch Ifrik. Danach kehrt er zurück zum „Zentrum“, der Ruine einer Art Deutschen Museums im Weltmaßstab. Dort erfährt er vom Tod seiner Schwester Mara. Diese Nachricht macht ihn krank und unfähig, sich zu bewegen, und das bleibt auch fast bis zum Ende des Romans so. Statt dessen nimmt im „Zentrum“ Griot (eine Nebenrolle aus „Mara und Dann“, siehe Spin-off) das Ruder in die Hand, der einst als Kindersoldat unter General Dann gedient hat, ihn bewundert und für ihn eine neue Armee schafft, die zu führen Dann aber eigentlich zu erschöpft ist.

Schon bei „Mara und Dann“ war es die unausweichliche Atmosphäre von Rückschritt, die das Buch durchzog, die mehr beeindruckte als die archetypische Handlung. Lessing zeigte den Menschen auf dem Rückzug, seine Städte versanken in Eis, Sumpf oder Wüstensand, und Wissen wurde nicht akkumuliert, sondern ging immer weiter verloren. Ein schauderhaftes Symbol dafür waren die bis ins Groteske wachsenden Insekten, Skorpione und Echsen, die nur auf den endgültigen Abtritt des Menschen zu lauern schienen. In der „Geschichte von General Dann …“ gibt es stattdessen die Schneehunde, die den weiten Weg über die nördliche Eiskappe gemacht haben, um wieder der beste Freund des Menschen zu werden. Dann rettet einen von ihnen vor dem Ertrinken und wird dafür mit unverbrüchlicher Freundschaft und Loyalität belohnt. Das ist kaum der Stoff, aus dem Apokalypsen gestrickt werden.

Nur am Beginn gelingt Lessing ein Bild von vergleichbarer Prägnanz, als Dann am Ufer des Mittelmeers steht, das sich nun mit Wassern aus den Gletschern und dem steigenden Ozean donnernd zu füllen beginnt. Hier wird noch einmal die Ohnmacht des Menschen angesichts der Veränderungen der Natur greifbar, jenseits aller unterschwelligen oder expliziten Appelle, sich besser um die Umwelt zu kümmern.

Es war die grausame Pointe von „Mara und Dann“, dass sich das Sehnsuchtsziel „Norden“, das die beiden Kinder immer wieder weitergetrieben hatte, nicht als Garten Eden erwies, sondern als trostloses Sumpfland. Das Leben würde weitergehen, so die Botschaft des Romans, aber es hatte jetzt kein Ziel mehr. Eine denkbar schlechte Ausgangsbasis für eine Fortsetzung. Doris Lessing schreibt die von ihr selbst geschaffene Zukunftswelt fort, doch die in „Mara und Dann“ angelegte Stagnation ihrer Geschichte zwingt sie zu einem ständigen Rekurs auf den Vorgängerroman. Damit aber degradiert sie die Fortsetzung zur derivativen Fanfiction beziehungsweise zur über fast 300 Seiten gestreckten Werbung für die Lektüre eines anderen Buchs.

Doris Lessing: „Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund“. Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006, 287 Seiten, 25 Euro