Stadium Arcadium

Ein parlandohaft erzählter Schäferroman, eine mythologisch unterfütterte Fremdenverkehrsidylle, sprachlich ungewohnt zurückgenommen, aber wieder ganz groß: Frank Schulz hat mit „Das Ouzo-Orakel“ seine Hagener Trinker-Trilogie beendet

Frank Schulz’ neuer Roman „Das Ouzo-Orakel“ ist voller Anspielungen auf die antike Mythologie und LiteraturDer arkadische Mensch, der Bodo Morton in Griechenland geworden ist, landet am Ende wieder unsanft in der Realität

von FRANK SCHÄFER

Die vor mehr als 15 Jahren begonnene „Hagener Trilogie“ liegt nun also mit dem würdigen Schlussstück „Das Ouzo-Orakel“ abgeschlossen vor – vollendet, müsste man eigentlich sagen. Wir harren nun gespannt der Dissertationen, die diesen eigenen literarischen Kontinent noch einmal neu erschließen, das heißt zuallererst die verschlungenen, verzweigten Plotstrecken schön anschaulich kartografieren, damit ich das auch mal begreife. Nicht dass es darauf ankäme, ich wüsste halt nur ganz gern, ob das alles glatt aufgeht.

Nach „Kolks blonde Bräute“ (1991), diesem wundervollen Kindheits-, Heimat- und vor allem Trinkerroman, in dem es Frank Schulz gelingt wie nur wenigen vor ihm, die Metaphysik der Destille in Sprache zu fassen, und dem fast 800-seitigen Schelmen-, Künstler- und einmal mehr Trinkerroman „Morbus fonticuli oder die Sehnsucht des Laien“, der mit seinem manischen Beschreibungsfuror, seiner Gargantua-Komik und seinem anrührenden Sentiment die Literaturkritik förmlich hat sabbern lassen, nun also – ja was eigentlich? Ein sprachlich merklich zurückgenommener, für Schulz’sche Verhältnisse schon fast parlandohaft erzählter Schäferroman, eine mythologisch unterfütterte Fremdenverkehrsidylle und, kaum zu glauben, ein Temperenzlerroman!

Man muss es auch nicht glauben, es stimmt nicht so ganz. Späterhin greift der notorische Ich-Erzähler Bodo Morten erneut zur Flasche, vielmehr zur Ouzo-Bombe, weil sein selbst gebautes Arkadien von der Realität überrollt wird. Zunächst allerdings lebt Bodo nach seiner psychotischen Phase („Morbus fonticuli“) als säkularer Mönch ohne Lust und Laster, aber dafür mit rigide geregeltem Stundenplan in der – wenn auch touristisch erschlossenen – griechischen Einöde. Der Acheron fließt dort. Von seinem Refugium, der Villa Arkadia, blickt er auf die Odysseusbucht, wo der Recke den Zyklopen geblendet hat. Ein Totenorakel ist nicht weit. Und schließlich stellen sich auch noch drei Bakchen ein, die schon aus den beiden Vorgängenromanen bekannten Freundinnen Karin und Manu – und eine gewisse Monika Freymuth. Dass seine Eremitage durch diese dionysischen Weiber empfindlich gestört wird, weiß man bald, auch wenn man Euripides nicht gelesen hat. Jene Monika Freymuth entpuppt sich nämlich als Bodos ehemalige Kinderschützenprinzessin von 1969, als seine erste, vergebliche große Dorfliebe („mit Augen so grün wie einst das sonnige Wasser im Mühlenteich“), die ihrem Mann hier in die Provinz Epiros hinterhergereist ist, um ihre angeknackste Ehe zu retten. Schulz macht sich einen Spaß daraus, Bodos damalige und neuerliche Tändelei mit sanfter Ironie zu verkitschen.

Aber als gehörte das sowieso dazu, ist man dennoch hingerissen von den Reminiszenzen an dieses eine Dorfschützenfest im Leben eines jeden Landeis, das er hier ganz rosarot und doch wahrhaftig, warmherzig und ganz unsatirisch in Szene setzt. Noch der stereotype, von der dörflichen Mikrogesellschaft ebenso verlachte wie akzeptierte Suffkopp wird hier zwar witzig, zugleich aber auch als originäre Gestalt vorgeführt und somit literarisch gesegnet. Und Bodo, dem älteren, drückt man die Daumen wie der naivste Rosamunde-Pilcher-Leser, auf dass es wenigstens dieses Mal klappe mit der Monika. Wie Schulz es doch noch klappen und auch wieder nicht klappen lässt, ist dann ein Bravourstück literarischer Diplomatie, das Kitsch- und Kunstprinzip so harmonisch versöhnt, dass die beiden Seelen des Lesers – die doofe und die abgewichste, fast hätte ich die emphatische und die gnostische gesagt – sich vorm Autor in Dankbarkeit verneigen. Verraten darf man das leider nicht! Während Schulz’ ästhetische Aufmerksamkeit in den Vorgängerromanen vor allem der wortreichen Amplifikation galt, dem sprachlichen Exzess, hat er sich hier stärker dem motivischen Unterfutter gewidmet. Das Buch ist voller Anspielungen auf die antike Mythologie und Literatur. Er findet immer wieder hübsche Vignetten, die das Romangeschehen symbolhaft verdichten – und nicht zuletzt die Umkettelung des ironisch assimilierten Arkadien-Stoffs mit all diesen kleineren Leitmotiven und Chiffren ist überaus artifiziell.

Bodo schafft sich seinen eigenen locus amoenus, weil er an der urbanen Realität verrückt geworden ist: einen mythischen Ort der Zeitlosigkeit, des Friedens, der Freundschaft – aber auch der Melancholie. Denn in Arkadien weiß man um den unwiederbringlichen Verlust des Goldenen Zeitalters. Es ist ein sentimentalischer Ort, eben nicht das Paradies, sondern eine „künstliche“ Vergegenwärtigung dessen. Wie das, was Bodo schon in den ersten beiden Romanen umgetrieben hat: die eigene Kindheit. Auch die ist dahin, lebt aber weiter in der wehmütig idealisierten Imagination. Bodo, dieser literarisch beschlagene Privatgelehrte, hat sich hier also wieder einmal eine passgenaue Existenzform zurechtgeschustert, in der er, ohne den Verstand zu verlieren, seiner Obsession frönen kann. Denn immer noch will Bodo nur eines: zurück ins Dorf seiner Kindheit. Dass diese sich zwar in der Fantasie, aber nicht realiter wiederbeleben lässt, muss er dann einmal mehr sehr schmerzlich einsehen.

Dabei hat ihn Schulz mehrmals vorgewarnt. Schon die Plastikrose, die der adoleszente Bodo der doch so grünäugigen Monika schießt und als Unterpfand seiner Liebe überreicht, wird von ihr verschmäht. „Die ist ja gar nicht echt.“ Eine „echte“ Liebesgeschichte zwischen ihnen kann es also nicht geben. Das ist traurig, aber es gibt doch einen Trost. Der erotisch abermals Entflammte schaut sich die fast vergessene Devotionalie noch mal genau an: „eine Rose aus roten Plastikblättern auf grün ummanteltem Drahtstängel, die Dornen stumpf; ich schnüffelte daran, und sie roch immer noch nach Plastik, nach Kindheit, und so tot sie schon immer gewesen war, sie hatte einunddreißig Jahre überlebt, ohne auch nur ein Blatt zu verlieren.“

Die imaginierte „künstliche“, mit anderen Worten: die literarische Liebe ist zwar von vornherein „tot“ beziehungsweise „nicht echt“, hält dafür aber ewig. Und was noch wichtiger ist, ihre Dornen sind „stumpf“! Aber Bodo hört ja nicht … Das leitmotivische „Mühlrad-Rätsel“ variiert seine heikle arkadische Existenz – als Kippfigur zwischen Ideal und Realität, Literatur und Leben. Auch das darf man leider nicht verraten. Als Bodo, der in den vorangegangenen 500 Seiten immer gern – wie ein Kind! – auf seinem Stuhl gekippelt hat, des Rätsels Lösung erfährt, fällt er hin. Das ist schon ein bisschen dick aufgetragen und trotzdem wunderschön. Der arkadische Mensch, der seine Selfmade-Idylle über mehrere Jahre schön ausbalanciert, in der Schwebe gehalten hat, landet auf dem Boden der Tatsachen. Die Realität hat ihn wieder, und in der wird gestorben. So sind die letzten 50 Seiten eine zum Weinen schöne Totenklage für Spyro, den griechischen Freund.

Vom Ende her lässt sich der ganze Roman denn auch als monumentales Epitaph lesen. Wie Schulz diesen Roman ästhetisch organisiert, wie er den Plot mit Vorausdeutungen und langen Rückblenden subtil unter Spannung hält, wie er stimmige, nie gesucht wirkende Leitmotive setzt und schlüssig verzahnt, das zeigt sein Stilgefühl und seine stupende formale Begabung. Nicht minder virtuos, wie gewohnt, sind die Dialoge. Sie sprühen nicht nur vor burleskem Witz, sie erfüllen auch eine narrative Funktion. Indem er Akzente, dialektale Verfärbungen und sprachliche Marotten seiner Protagonisten protokolliert, verleiht er ihnen einen Körper, mit ganz individueller Physiognomie. Hier sprechen keine Pappkameraden, sondern echte Menschen. Frank Schulz nimmt sich mit so viel Wärme, Empathie und Humanität ihrer Passionen und Verhängnisse an, dass sie einem schlicht zu Herzen gehen. Schade, dass es nun erst mal vorbei sein soll mit Bodo, Karin und den anderen. Aber das Arkadien der Literatur hat ja Bestand. Nach einer Weile kann man einfach wieder von vorn anfangen.

Frank Schulz: „Das Ouzo-Orakel“. Hagener Trilogie III. Eichborn Berlin 2006, 545 Seiten, 24,90 €