Dieses Land ist abgebrannt

Der niederländische Fotograf Ton Koene hat das Leid der Flüchtlinge in der Zentralafrikanischen Republik und im Tschad dokumentiert

Aus Bossangoa und Bangui MARC ENGELHARDT

Auf dem Markt von Bossangoa verlieren sich die paar Kunden im Labyrinth aus verlassenen, verrosteten Metalltischen. An einigen Ständen verkaufen Bauern das Wenige, das sie auf den Äckern am Stadtrand geerntet haben: Cassava vor allem, eine Art Maniok, die für viele die einzige Nahrung dastellt. Einst war Bossangoa Warenumschlagplatz für den ganzen Norden der Zentralafrikanischen Republik. Mehr als 150 Kilometer auf der von Schlaglöchern gesäumten „Route Nationale 1“ legten Bauern und Händler am Markttag in klapprigen Peugeots zurück, um aus der Region an der Grenze zum Tschad nach Bossangoa zu kommen. Doch das ist vorbei. Heute ist Bossangoa eine Insel. Die Straße nach Norden über Paoua in Richtung Tschad ist unzugängliche Kampfzone von Banditen, Rebellen und der Leibgarde des Präsidenten François Bozizé. Die Felder im Norden von Bossangoa liegen brach, die Dörfer sind verlassen.

Auf dem Markt flüstern sich die Hausfrauen die letzten Horrormeldungen zu. „Die Leibgarde ist mit vorgehaltenen Waffen rein in die Dörfer und hat wahllos jeden erschossen, der männlich war, selbst ein- oder zweijährige Kleinkinder.“ Das Rote Kreuz schätzt, dass mehr als hundert Siedlungen zwischen Bossangoa und Paoua Hals über Kopf verlassen wurden. Die Flüchtlinge verstecken sich im dichten Busch. Selbst wenn es Hilfe gäbe: Hier würde sie niemanden erreichen.

In der Zentralafrikanischen Republik, einem Staat größer als Deutschland im Herzen Afrikas, herrscht Krieg. Doch anders als für die angrenzenden Konfliktgebiete Kongo, Sudan und Tschad interessiert sich niemand für diese Opfer einer humanitären Krise, deren Zahl die UN auf mindestens 1,1 Millionen schätzen, auf über ein Viertel der Bevölkerung. Das gilt auch für den Präsidenten im protzigen „Palais de la Renaissance“ in der Hauptstadt Bangui. General François Bozizé herrscht theoretisch über 4 Millionen Menschen, die sich auf unerschlossene Wälder und Savannen verteilen. In großen Teilen des Landes, vor allem im Norden und Osten, gibt es keine staatliche Autorität. Deshalb herrscht Bozizé vor allem über eines der größten Diamantenvorkommen der Welt, das überwiegend illegal zu den Händlern im belgischen Antwerpen gelangt.

Wer in Bangui regiert, kann sich bedienen: So war es schon unter dem selbst ernannten Kaiser Jean-Bedel Bokassa I, so ist es auch heute. Seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 hat das Land nur einen demokratischen Machtwechsel erlebt. Der jetzige Präsident Bozizé putschte seinen unbeliebten Vorgänger Ange-Felix Patassé im März 2003 aus dem Amt, vor einem Jahr ließ er sich in Wahlen offiziell legitimieren. Damit das nicht umsonst war, hat der General im Präsidentensessel seine Leibgarde nach Bossangoa und Paoua entsandt. Dort soll sie für seinen Machterhalt sorgen.

Der Leutnant der Leibgarde, Ludovic Ngaifei, hat eine klare Maxime. „Ich bin nicht als Mutter Teresa hierher gekommen.“ Er und seine Männer sind am 29. Januar in Paoua einmarschiert, wo sie Rädelsführer der Rebellion vermuteten. „Ich habe an diesem Sonntag den Chor in der Kirche dirigiert und konnte in dem plötzlichen Chaos gerade noch meine Geschwister nach Hause schaffen“, erzählt ein Gymnasiast, der seinen Namen nicht nennen will. Mit Freunden wollte er dann zur Kirche zurück. „Aber an einer Straßensperre haben uns die Soldaten der Leibgarde geschnappt und mitgenommen.“ Stundenlang wurden die acht in einer Militärbasis verhört und gefoltert. „Ich bin der Einzige, der überlebt hat.“ Seitdem verbreiten die Elitetruppen im Norden Angst und Schrecken.

Selbst der Präfekt von Bossangoa räumt Probleme ein. David Doni gibt Lagebericht in seinem Wohnzimmer unter dem Porträt des Präsidenten. „Die Menschen hier wollen arbeiten, aber es gibt nichts zu tun.“ Doni zittert, immer wieder schaut er abrupt über seine Schulter. Er hat Angst. Kein Wunder: Bossangoas Bürgermeister wurde vor einigen Monaten ermordet, auf der Straße nach Paoua, von „Wegelagerern“, wie es offiziell heißt. Doch jeder weiß, dass die Mörder Rebellen waren, Bozizés Gegner.

Die Rebellen schlagen genauso brutal zu wie Bozizés Männer. Zu ihnen gehören Unterstützer diverser Vorgänger Bozizés ebenso wie ehemalige tschadische Söldner des jetzigen Präsidenten. Sie fordern die Prämie, die ihnen vor Bozizés Putsch 2003 versprochen wurde: Pro Kopf 7 Millionen CFA-Franc, mehr als 10.600 Euro. Bis die kommen, bedienen sich die Söldner sich selbst. Angst vor Konsequenzen hat keiner. „Der Staat endet am Stadtrand von Bangui“, ist seit Jahrzehnten ein geflügeltes Wort hier: Außerhalb der Hauptstadt herrscht nur Gewalt.

Deshalb schwappen auch die Konflikte aus den Nachbarstaaten ungehindert über die grünen Grenzen der Zenralafrikanischen Republik und machen das Leben noch mehr zur Hölle. Rebellen aus dem Tschad, die den umstrittenen Präsidenten Idriss Déby absetzen wollen, sollen ihre Lager nahe der Stadt Birao im Nordosten der Zentralafrikanischen Republik aufgeschlagen haben. Eine multinationale Schutztruppe des zentralafrikanischen Staatenbundes CEEAC, die seit 2000 als Nachfolger einer UN-Blauhelmmission in der Zentralfrikanischen Republik steht, berichtete im April von Antonow-Maschinen, die dort hunderte Soldaten und schweres Gerät absetzten. Wenige Tage später starteten die Rebellen ihre Offensive auf Tschads Hauptstadt N’Djamena.

Ein Wunder, dass überhaupt jemand davon etwas mitbekommen hat. Die einzige Straße, die in den „fernen Osten“ der Zentralafrikanischen Republik führt, ist die Hälfte des Jahres unpassierbar. Was jenseits der Schlammpiste passiert, ist unklar. Selbst die Abgeordneten aus den betroffenen Wahlkreisen sind nach der Wahl im vergangenen Jahr nicht mehr in ihre Heimat zurückgekehrt und leben jetzt in der Hauptstadt Bangui.

Dass die reguläre Armee für Ordnung sorgt, ist unwahrscheinlich. Ihre Truppen sind ethnisch zerstritten, viele der gerade mal 5.000 Soldaten sind zudem längst im Pensionsalter. Weder Bozizé noch einer seiner Vorgänger wollte eine schlagkräftige Armee aufbauen, die ihm eines Tages Schwierigkeiten machen könnte. Auch andere Milizen haben es deshalb leicht: Rebellen aus Darfur im Sudan und selbst Teile der ugandischen Terrormiliz LRA (Lord’s Resistance Army) sollen in den unkontrollierten Randgebieten der Zentralafrikanischen Republik hausen. Ihre Opfer sind Zivilisten. Und um die kümmert sich in der Zentralafrikanischen Republik eh kaum jemand.

Einer der Wenigen, der sich doch kümmert, ist Gaspar Akofi. Seit 1992 arbeitet er in der Augenklinik von Bossangoa, einem grün-weiß gestrichenen Flachbau. Tagsüber, wenn operiert wird, wummert ein Dieselgenerator. Vom OP-Fenster aus sieht man Flusspferde, die sich im flachen Wasser suhlen. Dass es überhaupt noch ein solches Hospital gibt, ist der Christoffel-Blindenmission zu verdanken, der einzigen deutschen Hilfsorganisation, die noch in der Zentralafrikanischen Republik aktiv ist. Augenkrankheiten sind ein großes Problem im zugewucherten Busch, der gleich hinter Bossangoa beginnt. Ganze Dörfer leiden an Flussblindheit, tausende Menschen verlieren ihr Augenlicht, weil sie nicht behandelt werden.

Bei einem Rundgang durch die Stadt zeigt der zehnfache Vater Akofi immer wieder auf ramponierte Gebäude, deren Wände von Einschusslöchern durchsiebt sind. „Das hier war unser erstes Büro, aber Soldaten aus dem Tschad und dem Kongo haben alles zerstört, als sie die Stadt geplündert haben.“ Im Garten steht ein halb verfallener Tiefbrunnen. „Vielleicht haben die Soldaten Leichen in den Schacht geworfen, man weiß es nicht – dann könnte das Wasser vergiftet sein.“ Niemand denkt daran, das Gebäude wieder aufzubauen.

Bossangoa ist voll von solchen Häusern, zerstört und verlassen. Im Kampf um die Reichtümer des Landes haben Präsidenten und ihre Herausforderer immer wieder Soldaten aus dem Ausland geholt, um für sie zu kämpfen. Libyer, angeheuert von Bozizés Vorgänger Patassé, plünderten Bossangoa zuerst, vor den Tschadern im Dienste des jetzigen Präsidenten. Von der anderen Seite des Oubangui-Flusses, der die Südgrenze der Republik bildet und die Zentralafrikanische Republik von der Demokratischen Republik Kongo trennt, holte Patassé die Horden des kongolesischen Rebellenführers Jean-Pierre Bemba, die sich an der Bevölkerung schadlos hielten. Irgendwann wurde allen das Chaos zu groß. In den Wirren der 90er-Jahre haben sich selbst französische Staatsunternehmen zurückgezogen, die bis dahin den öffentlichen Sektor dominierten.

Als vor drei Jahren die Tschader kamen, hat Akofi wahrscheinlich die Klinik gerettet. Der heute 41-Jährige vergrub die teuren Mikroskope und andere medizinische Geräte in seinem Garten, während wenige Kilometer entfernt schon Schüsse fielen. „Wenn ich dabei erwischt worden wäre, hätten die mich sofort umgebracht.“ Gerade noch rechtzeitig floh er in die Wälder, wo seine Familie wartete. „Wir haben drei Wochen im Laub geschlafen, Wurzeln und Nagetiere gegessen.“ Als Akofi zurückkehrte, war die Stadt zerstört, die Mikroskope aber waren unversehrt. Ähnlich wie ihm damals muss es heute den Flüchtlingen entlang der Straße nach Paoua gehen, glaubt Akofi.

500 Kilometer weiter südlich, in der Hauptstadt Bangui, hat sich das internationale Personal von UN und Hilfsorganisationen im Wohnzimmer einer Etagenwohnung versammelt, die Maurizio Giuliano gehört. Keiner muss drängeln, es gibt nur eine Hand voll Helfer. Giuliano soll die Arbeit der verschiedenen UN-Organisationen im Land koordinieren. Doch weil es kein Geld gibt, gibt es auch kaum Hilfe und kaum Koordination. „Wir brauchen vergleichsweise wenig, um die schlimmsten Probleme anzugehen, aber selbst das haben wir nicht“, sagt Giuliano. Von den im vergangenen Jahr benötigten 22 Millionen Euro kam gerade einmal ein Drittel zusammen. In diesem Jahr beziffern die UN den Hilfsbedarf auf 37 Millionen, doch es kommt kein Geld. Die Zentralafrikanische Republik, eines der zehn ärmsten Länder der Welt, scheint von allen guten Gebern verlassen. „Unser Problem ist, dass die Krise kaum wahrgenommen wird“, klagt der UN-Koordinator. Dabei herrscht absolute Armut, fast überall. Die Aidsrate liegt in manchen Orten bei 35 Prozent, mindestens ein Drittel der Bevölkerung gilt als unter- oder mangelernährt. „So ganz genau können wir das allerdings nicht sagen, denn Daten gibt es nicht.“

Um überhaupt sinnvoll Hilfsgüter verteilen zu können, brauchen die UN-Agenturen Daten aus den unzugänglichen umkämpften Landesteilen. Deshalb flog Giuliano vor einem Jahr Freiwillige aus allen Regionen nach Bangui, um sie als Berichterstatter auszubilden. Die EU hatte ein Seminar finanziert. Die Teilnehmer waren begeistert und brannten darauf, die UN mit Daten zu versorgen. „Leider haben wir nie die paar zehntausend Euro zusammenbekommen, um die 43 Satellitentelefone zu finanzieren“, erzählt Giuliano. „Deshalb kann uns keiner unserer Berichterstatter anrufen.“ Das UN-Welternährungsprogramm WFP verteilt seine Hilfe deshalb bis heute nach dem Zufallsprinzip, denn keiner weiß genau, wie viele Flüchtlinge es wo gibt.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk spricht offiziell von 50.000, die es bis in die Lager im Tschad geschafft haben. Doch in Wirklichkeit, so Giuliano, ist die Zahl der intern Vertriebenen viel höher. „Ich schätze, es sind mindestens 800.000.“ Seine Wut kann der Italiener nur mühsam verbergen. Er versteht nicht, warum so wenig passiert. „Die Zentralafrikanische Republik ist eben einfach ein vergessenes Land.“