Die Kunst fühlen

Der französische Staatspräsident Jacques Chirac setzt sich heute selbst sein Denkmal: das neue, große ethnologische Wohlfühlmuseum Musée Branly

VON DOROTHEA HAHN

Wenn französische Präsidenten in Rente gehen, hinterlassen sie Steine. Pompidou schlug Schneisen für Schnellstraßen quer durch Paris. Mitterrand, der verschwenderischste Bauherr im Elysée-Palast, stellte einen Triumphbogen in den Westen, eine Oper in die Mitte und die damals größte Bibliothek der Welt in den Osten der Stadt. Jetzt widmet Jacques Chirac, dessen zwölf Amtsjahre zur Neige gehen, sein präsidentiales Denkmal wieder einem persönlichen Faible: ethnische Kunst. Heute eröffnet er offiziell das Musée Branly am gleichnamigen Seine-Quai im Windschatten des Eiffelturms. Das von Gärten umgebenen Gebäude von Star-Architekt Jean Nouvel ist das größte neue Musem der französischen Hauptstadt seit 20 Jahren und mit 236 Millionen Euro zugleich das teuerste. Es enthält Kunst- und Ritualobjekte aus allen Kontinenten – außer aus Europa. Daneben eine Bibliothek, einen Veranstaltungssaal, eine weltweit zugängliche Onlinedatenbank mit mehreren hunderttausend Objekten sowie ein eigenes ethnologisches Forschungsinstitut.

Von außen ist das Musée Branly ein Kasten aus Stahl, Glas und Beton. Im Inneren ein verspielter Flirt zwischen High-Tech und Stammeskunst. Eine Rampe führt in das Herz des Museums. Am oberen Ende kann nach links gehen, wer nach Afrika strebt oder in die „Amerikas“ – wobei der Plural anzeigen soll, dass es nicht nur um Objekte aus den USA geht. Wer sich für Asien und Ozeanien interessiert, geht nach rechts. Auf beiden Seiten sind BesucherInnen mit Masken, mit Figuren, mit Schmuck und mit Textilien aus anderen Zivilisationen konfrontiert. Man geht durch gedämpftes Licht. Durch sanfte Wand- und Bodenfarben und durch atmosphärische Klänge – von Gesang bis zu Getrommel. Und man schaut durch in urwaldfarben getönte Glasfassaden zur einen Seite auf die Seine, zur anderen in das vornehme siebte Pariser Arrondissement hinein.

Wie kommerzielle Geschäftszentren, die „emotionale Erlebnislandschaften“ bauen, um KundInnen zum längeren Verweilen zu verführen, schafft das Musée Branly eine Wohlfühlzone. Anders als ethnologische Museen älteren Datums versucht das Branly nicht, zu belehren. Stattdessen sollen BesucherInnen etwas fühlen und erleben. Erklärende Texte neben den Exponaten sind selten – und kurz gehalten. Wer mehr wissen will, kann sich in wüstenfarbenen, mit Leder ausgelegten Sitzhöhlen niederlassen und auf kleinen Bildschirmen ZauberInnen und weisen Männern und Frauen aus aller Welt lauschen, die über ihre spirituellen und medizinischen Geheimnisse plaudern. Wer dann gleich Objekte kaufen will, kann das in dem großen Museumsladen tun.

Chirac interessiert sich seit Jahren für die arts premiers – die ersten Künste aus aller Welt. Er sammelt asiatische und afrikanische Figürchen. Im Jahr 1992, als weltweit der „Eroberer“ Christoph Columbus gefeiert wurde, organisierte Chirac, damals Bürgermeister von Paris, eine Ausstellung über die Taïnos, ein im Zuge der Conquista ermordetes karibisches Volk. Auch sein Musée Branly steht in dieser Tradition. Der Staatspräsident versteht es als seinen „Beitrag zum Dialog der Kulturen“. Und als einen Versuch, den USA und Großbritannien nicht das Monopol für diesen Dialog zu belassen.

Ethnologische Museen in der direkten Tradition des Kolonialismus gibt es in Frankreich – wie in Großbritannien – viele. Sie haben erst den Blick von AvantgardekünstlerInnen, später auch den des großen Publikums in Europa auf die „fremden Kulturen“ geprägt. Die beiden wichtigsten Einrichtungen dieser Art in Paris waren jahrzehntelang das Musée de l’Homme und das Museum für Afrika und Ozeanien an der am Ostrand der Stadt gelegenen Porte Dorée, das einst den programmatischen Namen Museum der Kolonien trug. Auf seinen Fassaden erzählen Reliefs von dem wirtschaftlichen Nutzen der Kolonien für das Mutterland. Für das Musée Branly mussten beide Einrichtungen ihre schönsten Objekte und ihre Bibliotheken abgeben. Aber ihre Vorarbeit auf dem Terrain ist nicht erwähnt. Chirac und die MacherInnen des Musée Branly wollten mit der konzeptionellen und räumlichen Veränderung, zugleich auch mit der alten Tradition des kolonial geprägten Blickes brechen. Aus Gründen der politischen Korrektheit haben sie auch jeden Hinweis auf „Stammeskunst“ oder „erste Kunst“ aus dem Museumsnamen verbannt. Werden die alten Institutionen durch die Neugründung überflüssig? Die MitarbeiterInnen der alten ethnologischen Museen haben die Neugründung als Trauma erlebt. Im Musée de l’Homme wagen manche Ethnologen wie Manuel Valentin inzwischen Zweckoptimismus. Als Ergänzung und Zusatz zu dem ästhetisch schönen neuen Musée Branly schlägt er für sein eigenes Museum den Blick in die unmittelbare französische Umgebung und in die Gegenwart vor. Ein Museum, das sich auf die Umwelt, auf urbane Leben und auf die Gewalt konzentriert.