Die Vitalität ist ein Symptom der Krise

taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 2): „Creative Industries“ gelten als letzter Trumpf für die darbende Wirtschaft Berlins. Doch viele Kleinstfirmen werden aus purer Not gegründet. Sie unterbieten sich gegenseitig und müssen lausige Aufträge annehmen

von Tina Veihelmann

Früher dachte man an Batikworkshops, wenn von „Kreativen“ die Rede war. Es hatte was von Aussteigertum. Das ist heute anders. Besonders in zunehmend deindustrialisierten Regionen werden die Kreativen inzwischen als Hoffnungsträger einer neuen postindustriellen Ökonomie gehandelt. Weltweit untersuchen Städte und Länder die Potenziale ihrer „Creative Industries“ – in London, in Wien oder im Ruhrgebiet. Wo die Schornsteine zu rauchen aufhören, gedeiht die Hoffnung auf die Kreativen. Doch zu welchen Erwartungen berechtigen sie? Wer sind überhaupt „die Kreativen“? Und was sollen sie leisten?

Die Zahlen können sich durchaus sehen lassen. 2005 brachte eine Studie zutage, dass die „Creative Industries“ in Berlin mittlerweile einen ebenso hohen Anteil am Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften wie das gesamte verarbeitende Gewerbe. Mit 11 Prozent, so der Bericht über die „Kulturwirtschaft in Berlin“, seien Designer, Schriftsteller oder Technolabels inzwischen ökonomisch ebenso bedeutend wie der Maschinenbau, die Pharmawerke oder die Elektroindustrie. „Es ist das Einzige, was in Berlin wächst. Das Einzige, was wir haben“, sagt Tanja Mühlhans, Referentin in der Senatsverwaltung für Wirtschaft. „Berlin wird nie mehr eine Industriestadt sein. Deshalb müssen wir diese einzige Karte spielen.“

Mühlhans ist Betriebswirtin, eine zierliche Frau mit blonden Haaren, die in einem winzigen Büro einer riesigen Verwaltung sitzt. Hier riecht es nach Aktenordnern, und es sieht aus, als sei der Computer erst gestern eingeführt worden. Sie hat fast allein die Studie über die Creative Industries in Berlin angefertigt – keiner außer ihr war bereit, die Sache wirklich zu unterstützen. Berlins Bewerbung für die Unesco-Stadt des Designs geht ebenfalls auf ihre Kappe – und sie hat tatsächlich den Zuschlag bekommen. Mühlhans glaubt an die Kreativen. Doch diesen Glauben teilen nicht alle.

„Was wollen Sie denn da mit ihrer Trallalawirtschaft?“, müssen sich etwa die Grünen anhören. Sie haben kürzlich einen Antrag im Abgeordnetenhaus eingebracht. Darin fordern sie, den Ergebnissen des Kulturwirtschaftsberichts nun „konkrete Schritte“ folgen zu lassen. Bislang fließen noch über 90 Prozent der Wirtschaftsförderung in die klassische verarbeitende Industrie, weil diese allein über die Strukturen verfügt, die Mittel abzurufen.

Nur wo Visionen von Berlins Zukunft verkündet werden müssen, greift man die Ergebnisse der Studie über die Creative Industries begeistert auf. Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) etwa erklärt die Kreativen in ihrer neuen Strategie zur Zukunft Berlins zum ökonomischen Kapital der Stadt schlechthin. Die ganze Stadt will sie mit Strandbars, Straßencafés und Schnuckelkiezen so gestalten, dass sich dort eine „Kreative Klasse“ niederlässt. Und wenn diese „urbanen Mittelschichten“ dann gekommen sind, wird alles gut – hofft sie.

Doch viele gestandene Politiker können sich noch immer nicht so recht vorstellen, wer die Kreativen eigentlich sind. Die einen scheinen sie als eine Art Zunft von Zauberern zu sehen, die etwas Unfassbares, Schillerndes, Magisches tun können, wenn die Realität ausweglos erscheint. Die anderen sehen sie offenbar als buntes, windiges, wenig zuverlässiges Volk. Dass Firmen, die mit kreativen Produkten arbeiten, schlicht Marktteilnehmer sind, die unter bestimmten Bedingungen arbeiten, scheint ihnen wenig bewusst zu sein.

Sind sie die Zukunft der Stadt? Steffen Schuhmann vom Designtrio „anschlaege.de“ ist einer dieser Kreativen, die die Stadtentwicklungssenatorin in ihrer Jubelschrift als einen der „quicklebendigen“ Hoffnungsträger Berlins aufführt. Er zögert mit seiner Antwort. „Können wir zurzeit jemanden einstellen?“, fragt er zurück. Er zumindest kann es nicht. Und das, obwohl er und seine Mitstreiter zig Preise gewonnen haben und ständig zu internationalen Designkongressen eingeladen werden.

Sie sind ehrgeizig und fleißig. Was aber, wenn anschlaege.de die bisherigen Arbeitgeber ersetzen soll? Siemens und Schering waren Giganten einer alten, fordistischen Zeit. Heute werden die großen Monolithen durch viele kleine, vitale und selbstbestimmte Firmen abgelöst. Eine neue Gründerzeit ist angebrochen.

Doch gerade dass die Kreativen so vital sind, ist ein Symptom einer Krise. Weil so viele an das kreative Versprechen glauben, tummeln sich auf den einschlägigen Märkten unzählige hoch motivierte Anbieter, die sich gegenseitig unterbieten und demzufolge kaum Kapital akkumulieren können. Selten sind sie in der Lage, Beschäftigte zu bezahlen.

Zum Beispiel der Designbereich: 6.300 Firmen gibt es derzeit in Berlin. Etwa ein Dutzend davon beliefern nach Schätzungen von Branchenkennern auch weltweit ihre Kunden. Weitere 300 seien mittelständische Unternehmen. Die übrigen stellen das Fußvolk. Sie gelten stets als überlastet, Aufträge müssen angenommen werden, selbst wenn sie lausig bezahlt sind, notfalls nächtigt man im Interesse pünktlicher Auftragserfüllung im Büro. Und wenn Neueinsteiger auf diesen Märkten ihre eigene Firma gründen, geschieht dies nicht aus Gründergeist, sondern aus Not. Er ist schlicht eine Alternative zur Arbeitslosigkeit.

Zugleich stecken die Kreativen in einem Dilemma. Sie werden gleichzeitig über- und unterschätzt. Unterschätzt, weil sie von vielen nicht ernst genommen werden. Bei Verhandlungen um leer stehende Immobilien, die der Kreative als Atelier nutzen möchte, werden sie zum Beispiel von der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft eher wie Hausbesetzer behandelt als wie gleichwertige Geschäftspartner.

Zugleich sind die Erwartungen hoch. Weil die meisten von ihnen jedoch keineswegs dem Bild einer properen „Creative Class“ entsprechen, sondern sich eben durchwursteln müssen, sind viele von ihnen enttäuscht. Werden sie dann auch noch als „urbane Penner“ diffamiert, ist der Frust besonders groß.

„Weniger säen, mehr gießen“, fordert Schuhmann von anschlaege.de. Statt die Kreativen abwechselnd zu glorifizieren und sie mit überzogenen Erwartungen zu überfordern, um sie im nächsten Moment wieder in den Staub zu treten, wollen die meisten lieber als ganz normale Marktteilnehmer ernst genommen werden. Dazu gehört zum einen Ehrlichkeit. Zum anderen die Weisheit, dass garantiert nicht alle in der Stadt vom Kreativsein leben können.