Holocaust-Überlebenden fehlt das Geld

In Israel leben ein Viertel der 260.000 Betroffenen unterhalb der Armutsgrenze. Steigende Kosten bei Pflege und Medikamenten im Alter strapazieren die Kassen der Wohlfahrtsverbände. Die Regierung unterstützt 50.000 Menschen direkt

AUS HOLON SUSANNE KNAUL

Leopold Rosen fällt das Atmen schwer. Der 84-Jährige leidet unter chronischer Bronchitis und Asthma. Sechzehn Stunden täglich müsste er Sauerstoff zugeführt bekommen. „Mein Arzt wollte mich schon ins Krankenhaus schicken, aber da gehe ich nicht hin“, keucht er und deutet auf einen Sauerstoffbehälter, den ihm sein Sohn von einer Wohlfahrtsorganisation besorgte und der gerade einmal für drei Stunden ausreicht. Um sich den nötigen Sauerstoff zu beschaffen, fehlt ihm das Geld. Rosen ist einer von rund 260.000 Holocaust-Überlebenden in Israel.

Auf den ersten Blick macht seine kleine Dreizimmerwohnung in dem Tel Aviver Vorort Holon einen passablen Eindruck. An der Wand hängen Fotos seiner Söhne und deren Familien. „Die Frau“, wie Rosen seine ukrainische Hilfe nennt, sorgt sich um ihn, weil er sich nicht mehr allein anziehen kann oder „auch nur die Flüssigkeit in das Inhalationsgerät einfüllen“. Sie macht den Haushalt und führt Rex aus, den nervösen Pinscher Rosens. Die 550 Dollar, die „die Frau“ kostet, begleicht er mit der Wiedergutmachung aus Deutschland. Ihm selbst bleiben zum Leben umgerechnet keine 300 Euro.

Rund ein Viertel derer, die dem Naziterror in Europa entkommen konnten, leben heute unter der Armutsgrenze. „Die meisten waren während des Krieges Jugendliche und haben keine Ausbildung“, erklärt Seew Faktor, Vorsitzender des Holocaust Survivors Welfare Fonds, einer Stiftung, die sich der Notfälle unter den KZ-Überlebenden annimmt. 40 Millionen Dollar umfasst das Budget. Das reicht bei weitem nicht, die Bedürfnisse der alten Menschen zu decken. Selbst für eine neue Brille, wie sie Leopold Rosen dringend brauchte, fehlt das Geld.

„Wenn Krieg hat ausgebrochen“, beginnt Rosen seinen Bericht auf Deutsch mit starkem polnischem und jiddischem Einfluss, „waren wir 300 Verwandte und Verwandte von Verwandten.“ Rosen ist der einzige Überlebende. Im Frühjahr 1942 floh er aus dem Ghetto Stanislav. Die Wachposten erwischten ihn an der linken Hand, die bis heute komplett gelähmt ist, und mit einem Streifschuss am Bein. Über drei Jahre blieb der junge Jude in den Wäldern versteckt, schlachtete „mal einen Hund, mal einen Hasen“, um zu überleben. Nach dem Krieg konnte der gelernte Zimmermann nur noch Hilfsarbeiten übernehmen.

1957 kam er nach Israel und heiratete drei Jahre später. „Ich habe alles gemacht, sogar Abflüsse gereinigt. Wir waren zu fünft, die Kinder wollten essen.“ Die beiden älteren Kinder brachte seine Frau, die gelegentlich Putzarbeiten verrichtete, mit in die Ehe. Nur der jüngste gemeinsame Sohn kümmert sich noch um den Vater, hat aber selbst auch nicht die Möglichkeiten, ihm finanziell unter die Arme zu greifen. „Ich brauche dringend eine neue Prothese“, sagt Rosen.

Trotz der fast 50 Jahre, die er in Israel lebt, hat er nie Hebräisch lesen oder schreiben gelernt. Die Israel Nachrichten, die deutschsprachige Tageszeitung, sei zu teuer, aber „ich kaufe mir Bücher“, sagt er und präsentiert stolz seine Bibliothek. Ganze sieben Werke stehen dort, darunter „Meyers Lexikon“ aus dem Jahre 1928. Gleich daneben seine weitaus beeindruckendere Medikamentensammlung mit etwa 100 verschiedenen Packungen.

Die steigenden Pflege- und Arzneikosten für die alternden Überlebenden sind Hauptgrund für das Loch in den Kassen der Wohlfahrtsverbände. Ganze 10 Prozent des Stiftungshaushalts werden von der Regierung zugeschossen, und auch das erst, nachdem diese über eine Verdreifachung der bis 2004 gültigen Zahlungen entschied. Der Rest kommt von der Claims Conference, der Organisation, die seit 1951 zusammen mit Israel die Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland und Österreich einfordert. Faktor kritisiert, dass der Staat die steigenden Kosten nicht rechtzeitig kalkulierte. „Das Gesundheitsgesetz lässt die Geriatrie unberücksichtigt“, erklärt er. „Wenn ein KZ-Überlebender ins Altersheim muss, wird er nicht unterstützt.“ 85 Prozent des Stiftungsbudgets fließen in die Gehälter des Pflegepersonals der Holocaust-Opfer, die das Bett nicht mehr verlassen können. „Für Leute wie Rosen sind wir buchstäblich mittellos geworden.“

Tatsächlich unterstützt Israel mit 1,5 Milliarden Schekel (etwa 250 Millionen Euro) aus dem öffentlichen Haushalt jährlich rund 50.000 Überlebende. Ein Ende der finanziellen Notlage ist absehbar, denn die große Mehrheit der KZ-Überlebenden wird binnen zehn Jahren sterben, so rechnet Faktor. Doch gerade die letzten Lebensjahre sind die kostenintensivsten. „Der Holocaust war ein Erdrutsch“, resümiert er. „Was wir heute erleben, sind die Nachbeben. Immer wieder kleine Erdrutsche.“