Wo bleibt der High-Speed?

Warum das angekündigte Hochgeschwindigkeits-Fußballspektakel ausbleiben könnte

VON ULRICH FUCHS

High-Speed-Football hieß das Gespenst, das vor der WM umging in Fußballeuropa. Es sollte die nicht erstklassigen Teams das Fürchten lehren und die Fans verzaubern: mit einem Hochgeschwindigkeits-Fußballspektakel, das die Welt noch nicht gesehen hatte.

Und jetzt? Müssen wir zum Ende der Hinrunde die im Fußballdiskurs gerne mal bemühte Euphoriebremse treten? Zumindest was die Erwartungen an die Verknüpfung von größtem Tempo, höchstem technischem Potenzial und sehr gut ausgebildetem mannschaftstaktischem Verhalten angeht?

Man weiß es nicht. Was man weiß: Der vorab beschworene Hochgeschwindigkeitsfußball ist bei dieser WM noch nicht wirklich angekommen.

Aber vielleicht hat er auch nur Verspätung.

Falls er noch kommt, werden wir ihn leicht erkennen können. Ein Wesenszug des modernen Spiels ist ja die schnelle Ballzirkulation. Im Hochgeschwindigkeitsfußball werden möglichst alle Elemente ausgereizt, die sie beschleunigen können. Der Ball wird immer möglichst scharf gepasst, auch die Spieler selber sollen sich bei der An- und Mitnahme und dem Weiterspielen des Balls oft in höchstem Tempo befinden, und drittens soll die Verweildauer des Balles bei einem Spieler kurz gehalten werden. Sprich: Im Idealfall wird, wann immer das geht und Sinn macht, nur mit einer Ballberührung weitergespielt, weshalb der Hochgeschwindigkeitsfußball auch One-touch-Football genannt wird.

Diese ballbeschleunigenden Elemente sollen dabei nicht zum Selbstzweck erhoben werden, sondern helfen, schnell in die gefährliche Zone vor dem gegnerischen Tor zu kommen. Deshalb soll beim Hochgeschwindigkeitsspiel auch häufig der (neuerdings gerne so genannte) vertikale Pass zum Einsatz kommen. Was schlicht bedeutet: Anstatt quer- oder zurückzuspielen soll oft schnell steil nach vorne gepasst werden. Mit diesem forcierten Spiel in die Tiefe kann man nicht nur zügig die torgefährliche Zone erreichen, man erreicht sie so unter Umständen auch, bevor der Gegner mit seiner Defensivarbeit die Zuspielwege verstellt hat.

Aber haben wir das alles in Wahrheit nicht schon oft gehört? Haben nicht schon Beckenbauer und Müller den direkt gespielten Doppelpass perfektioniert und Netzer – wenn auch mit Flugbällen – das vertikale Spiel in die Tiefe? Doch, selbstverständlich. Aber erstens war Netzer lauffaul und langsam, zweitens kam der Beckenbauer-Müller-Doppelpass im Prinzip nur rund um den gegnerischen Sechzehner zum Einsatz, und drittens waren alle drei in ihren Teams Ausnahmekönner, was ihr technisches Vermögen angeht.

Um Hochgeschwindigkeitsfußball zu spielen, wie das Arsenal London kann oder der FC Chelsea und selbstverständlich der FC Barcelona, braucht es eine ganze Mannschaft von Ausnahmekönnern. Schließlich ist überall im engmaschigen Netz der sich schnell verschiebenden gegnerischen Reihen eine perfekte Ballan- und Mitnahme Voraussetzung, wenn man in höchstem Tempo vorankommen will.

Mal abgesehen davon, dass neben diesen individuellen Voraussetzungen auch die Muster intensiv eingeübt werden müssen, nach denen es vorwärts gehen soll. Vielleicht verbirgt sich genau hier auch ein Grund, warum wir – jenseits von ein paar Einsprengseln – noch immer auf den Hochgeschwindigkeitsfußball warten bei der WM.

In Klubmannschaften werden High-Speed-Konzepte oft über Jahre hinweg eingeübt und dabei die dazu passenden Spieler zusammengestellt. Das geht nur mit starken Trainerfiguren, die ein Konzept vorgeben, auf das sie alle Spieler verpflichten. Nationale Auswahlteams sind dagegen meist nur relativ kurz zusammen und die Spieler oft nicht nach einem Konzept zusammengestellt, sondern weil sie die individuell Besten ihres Landes sind. Das verkompliziert die gruppendynamischen Bedingungen. So scheint ein hochkarätig besetztes Team wie Frankreich bei dieser WM auch daran zu scheitern, dass das Trainerkonzept von einzelnen Stars nicht mitgetragen wird.

Ob der brasilianische Hang zum behäbig-narzisstischen Spiel in Richtung eines barcelonischen Tempofußballs beschleunigt werden kann, wird sich wohl erst zeigen, wenn die Gegner stärker werden. High-Speed-Potenzial besitzen auch Italien und vielleicht Spanien und Holland. Am weitesten sind natürlich die mit einer ordentlichen Portion Chelsea-Zynismus ausgestatteten Argentinier. Trainer José Pekerman hat übrigens viele seiner Spieler schon als Coach der U 20-Auswahl angeleitet, mit der er dreimal Weltmeister wurde. Keine schlechte Voraussetzung, um statt traditionellem Heldenfußball modernen Konzeptfußball zu präsentieren – im High-Speed-Format.

ULRICH FUCHS ist Mitglied des taz-WM-Analyseteams und Autor (mit Christoph Biermann) von „Der Ball ist rund, damit das Spiel die Richtung ändern kann“. Das Buch leitete die Verfachlichung des Fußballdiskurses in Deutschland ein