Das Leben der Anderen

Franziska Meletzky gelingt mit ihrem Film „Nachbarinnen“ ein lebensnahes Porträt von zwei ganz unterschiedlichen Frauen auf zwei ganz unterschiedlichen Fluchten (22.45 Uhr, ARD)

VON SILKE BURMESTER

Die Geschichte ist in Uwe Timms „Die Entdeckung der Currywurst“ aufs Wunderbarste beschrieben: Ein Mensch muss sich verstecken. Die Person, die ihn aufnimmt, wird aus ihrer Einsamkeit gerissen und verstrickt sich in einem Lügennetz, um zu verhindern, dass der Flüchtige weiß, dass die Gefahr vorbei ist.

In „Nachbarinnen“, dem Auftakt der Reihe „Debüt im Ersten“, gibt die Regisseurin Franziska Meletzky der Paketfahrerin Dora (Dagmar Manzel) die Rolle der Introvertierten. Spröde ist Dora, wortkarg, aber direkt. Ihre Kontakte mit anderen gleichen dem Versuch, mit nackten Beinen eine Rutsche hinunterzugleiten. Das Klingeln der Nachbarin Jola, einer Polin, die vor der Polizei flüchtet, kommt für sie bereits einer Grenzüberschreitung gleich. Als Jola bittet, bleiben zu dürfen, ist Dora ehrlich entrüstet: „Haben Sie eine Meise?“

Anders als Dora, die unter dem Fortgang ihres Mannes leidet, sich in einen peniblen Ordnungswahn flüchtet und allenfalls Kakteen als Lebewesen in ihrer Nähe aushält, ist Jola (Grazyna Szapolowska) dem Leben zugewandt. Die Farbe Rot, die sie überwiegend trägt, ist das Symbol, das die Feurigkeit, den Lebenshunger der sinnlich-attraktiven Endvierzigerin ausdrückt. Doch auch sie ist eine verletzte Person, aber anders als Dora ohne Angst vor dem Leben. In der Enge der Wohnung, die Jola nicht verlassen kann, weil sie meint, jemanden getötet zu haben, stößt sie unweigerlich an Doras Grenzen. Die Abhängigkeit Jolas macht es der Einsamen möglich, sich einzulassen. Aber die Liebe und die Angst, dass sie gehen könnte, treibt Dora in die Rolle einer Gefängniswärterin.

Franziska Meletzky erzählt mit großer Ruhe die Geschichte einer verletzten, einsamen Frau. Sie lässt ihren Figuren viel Zeit sich zu zeigen, bevor die jeweilige Handlung beginnt. Das ist an mancher Stelle ermüdend und gibt doch den Schauspielern die Möglichkeit, großartig zu sein. Dagmar Manzel verkörpert diesen schwierigen Mitmenschen mit einer solch spannungsreichen Feinheit, dass man sich wünscht, als Flüchtige in ihrer Wohnung zu landen.

Die unter anderem mit dem Silbernen Bär ausgezeichnete Polin Grazyna Szapolowska ist in ihrer tiefen Weiblichkeit ein perfektes Pendant zur trockenen Figur der Dora. Jörg Schüttauf, Garant für anspruchsvoll-traurige Filme, gibt dem Film in der Rolle des verlorenen Handwerkers Conny das nötige leichte, unterhaltsame Moment. Schade nur, dass die Zeit, die Meletzky ihrer Geschichte lässt, am Ende fehlt: Die Szene der Eskalation zwischen den Frauen, der Übergriff Doras geschieht mit einer Schnelligkeit, die weder der Beziehung noch dem Zuschauer gerecht wird. Zwei Minuten mehr hätten der Handlung gut getan, um vom seichten Schaukeln zur großen Welle anzuwachsen.

Dennoch ist der 33-jährigen Leipzigerin Franziska Meletzky mit ihrer Regie-Abschlussarbeit (Drehbuch: Elke Rössler) gutes, dem Leben nahes Fernsehen gelungen. Der RBB hat mit einer Beteiligung an dem gerade mal 900.000 Euro teuren Film gutes Gespür bewiesen. Nur die Programmmacher der ARD haben bei der Festsetzung des Sendeplatzes auf 22.45 Uhr mal wieder geschlafen.