Sprachlos in Algerien

In Hamburg werden Kriegs-Impressionen Pierre Bourdieus sowie Soldaten- und Agenturfotos gezeigt. Deichtorhallen-Chef Robert Fleck hat die mit den Medien abrechnende Schau kuratiert

„Die Erdhäuser konnte Bourdieu nur fotografieren, weil die Franzosen das Dach abgenommen hatten, um die Leute zu zwingen, in Umsiedlungslager zu ziehen“

Interview: PETRA SCHELLEN

taz: Pierre Bourdieu war bislang eher als Soziologe denn als Fotograf bekannt. Wieso hat man von seiner fotografischen Tätigkeit bislang so wenig gewusst?

Robert Fleck: Die Fotos, die er im Algerienkrieg gemacht hat, sind erst am Ende seines Lebens aufgetaucht. In Algerien war er zunächst Soldat. Drei Jahre lang hat er diesen schmutzigen Krieg mitgemacht, bevor ihn ein befreundeter Professor an die Uni von Algier und aus diesem Krieg herausgeholt hat. Zu diesem Zeitpunkt war Bourdieu schon klar, dass seine philosophische Ausbildung viel zu abstrakt war. Er hat sich dann entschieden, Völkerkundler und Soziologe zu werden. Er wollte Feldforschung betreiben, was angesichts dieser fremden Bevölkerung in Algerien schwer war. Denn er konnte nicht wie ein klassischer Soziologe Interviews führen – einerseits aufgrund der Sprachprobleme, andererseits wegen der Kriegssituation und extremen gegenseitigen Feindseligkeit. Da hat er eben stattdessen fotografiert. Zu Studien- und überhaupt nicht zu Veröffentlichungszwecken.

In welchem Zusammenhang sind die Fotos aufgetaucht?

Franz Schultheis, ein befreundeter Wissenschaftler, hat Bourdieu in dessen Arbeitszimmer einmal gefragt, von wem die Umschlag-Fotos auf Bourdieus Büchern stammen. Da hat Bourdieu gesagt, die sind von mir, die liegen in diesem Koffer. Und da lagen tatsächlich die ganzen alten Abzüge – über 2.000 Fotos aus Algerien, alle im Format sechs mal sechs, mit der Rolleiflex gemacht. Bourdieu hat diese Fotos der Zeitschrift Camera Austria vermacht und vereinbart, dass sie nur digital gezeigt werden dürfen, damit sie keine Spekulationsobjekte des Kunstmarkts oder Fetische werden. Dann haben sie gemeinsam begonnen, eine Ausstellung vorzubereiten und Bilduntertitel zu erstellen. Bevor die Schau fertig war, im Jahr 2002, ist Bourdieu allerdings gestorben.

Was fesselt Sie an Bourdieus Fotos?

Die Tatsache, dass sie nicht als künstlerische Fotos gedacht sind, aber auch nicht als Pressefotografie. Es geht um das reine Beobachten eines fremden Volkes. Deshalb zeigen diese Fotos eine sonst kaum wahrgenommene Dimension der Fotografie. Dabei hat er einerseits in der Stadt fotografiert – zwischen 1959 und 1962 übrigens: zu einem Zeitpunkt, als die muslimische Bevölkerung bereits spürte, dass sie diesen Krieg gewinnen würde. Bis dahin war es nämlich ein minderheitlicher Aufstand – und dann wurde er plötzlich politisch internationalisiert. Denn dieser Krieg wurde letztlich politisch gewonnen, weil die Weltöffentlichkeit auf die Folter seitens der Franzosen extrem sensibel reagiert hat. Bourdieu beobachtet also, wie diese Bevölkerung auf der Straße plötzlich souverän wird. In der Stadt hat er aber immer nur heimlich fotografiert, die Kamera vor dem Bauch.

Bourdieu hat auch in den ländlichen Gebieten Algeriens fotografiert. Waren die Eindrücke dort sehr anders?

Dort war er mit einem Algerier unterwegs und hat richtige Feldforschung betrieben. Sie sind nicht mit der Armee, sondern auf eigene Faust losgegangen, was extrem gefährlich war. Als einer der ganz Wenigen hat Bourdieu zum Beispiel die Umsiedlungslager besucht, die die französische Armee Ende der 50er Jahre installierte. Ziel war, die Dörfer aufzulösen und den Aufständischen so Unterstützung und Einfluss zu entziehen. Auf den ersten Blick wirken diese Fotos oft schön, exotisch, impressionistisch. Wenn man genauer hinsieht beziehungsweise die Unterzeile liest, kippt diese Wahrnehmung total. Es gibt zum Beispiel ein Foto, auf dem Kinder um einen Brunnen herumstehen. Wie in Geo. Was man aber dazu wissen muss: Die Kinder sind am Brunnen, weil die muslimischen Frauen das Haus nicht verlassen, wenn ein europäischer Mann da ist. Und die algerischen Männer sind alle deportiert. Wenn man das weiß, wird das Bild plötzlich sehr hart. Anderswo hat Bourdieu Innenräume traditioneller Erdhäuser mit sehr schönen Ornamenten fotografiert. Wichtig zu wissen: Das konnte er nur fotografieren, weil die französische Armee das Dach abgenommen hatte, um die Leute zu zwingen, in die Umsiedlungslager zu ziehen.

Hat Bourdieu die Fotos auch in politischer Absicht gemacht?

Schon – insofern er ein erstes Buch geschrieben hatte über die Soziologie von Algerien. Auf das Cover der englischsprachigen Ausgabe hat er die Fahne der algerischen Unabhängigkeitsbewegung gesetzt. Das war schon stark.

Kann man also sagen, er stand auf der Seite der Aufständischen?

… jedenfalls stand er ganz klar auf Seiten der Bevölkerung.

was nicht ganz dasselbe ist …

… nun, die Aufständischen, die in der Tat eine Minderheit waren, sind auf Bourdieus Fotos nirgends abgebildet. Das wäre für ihn nicht möglich gewesen und war auch nicht Gegenstand seiner Forschung. Aber er stand auf der Seite der Einheimischen und nicht der europäischen Siedler, die zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten und die besten Böden hatten.

Wie gefährlich war Bourdieus Reise über Land denn wirklich?

Äußerst. Bourdieu hatte ja nur ein Schreiben der Universität, das bezeugte, dass er Forscher sei. Das konnte er bei Armee-Kontrollen vorweisen. Und zum Schluss der Reise hat es auch öfter Morddrohungen gegeben.

Von wem ging die Bedrohung aus?

Offensichtlich von der französischen Armee.

Warum? Er hat doch gar keine Folter fotografiert …

Sie mochten nicht, dass da einer einfach so rumfährt. Das war ihnen zu unberechenbar.

Die Bourdieu-Bilder wurden 2003 in Paris gezeigt. Haben sie eine politische Diskussion über das immer noch tabuisierte Thema erzeugt?

Im Gegenteil. Sie waren ein großer Publikumserfolg. Man hat diese Fotos als schön und exotisch rezipiert.

Es war kein Politikum? Analog zur hiesigen Wehrmachtsausstellung?

Überhaupt nicht! Die großen Tageszeitungen haben den Zusammenhang mit dem Algerienkrieg nicht erwähnt.

Die Folter-Diskussion wurde also komplett ausgeblendet?

Ja. Und ein Jahr später gab es eine Ausstellung über die Fotografie und den Algerien-Krieg. Soldatenfotos wurden da gezeigt. Aber auch dort hat man die konfliktträchtigen Dinge herausgenommen.

Die Hamburger Ausstellung rahmt die Bourdieu-Fotos durch eine Schau zur Bedeutung der Fotografie im Algerienkrieg. Welches Konzept verfolgen Sie hier?

Wir wollen zeigen, welch riesigen Einfluss die Fotografie damals hatte. Die Zeitschrift Paris Match – so etwas wie der Stern – spielte eine Rolle wie heute das Fernsehen. Paris Match war bis zum Schluss ein Verfechter des Kolonialismus. Ein anderer Teil unserer Schau gilt der manipulierten Fotografie. Dem stellen wir unveröffentlichte Stern-Reportagen von Rolf Gillhausen und Max Scheler, den späteren Gründern von Geo, gegenüber. Auch die Amateurfotografie hat eine riesige Rolle gespielt. Denn die Soldaten haben massenweise fotografiert, was sie sahen und was sie taten. Diese Fotos haben sie dann nach Hause geschickt.

Was zeigen diese Fotos?

Wie heute im Irak: Soldatenleben, Einsätze, aber auch harte Themen. Ähnliche Dinge, wie man sie in der Wehrmachts-Ausstellung gesehen hat. Das, was die französischen Medien aufgrund der Pressezensur nicht abbilden durften.

Die französische Bevölkerung wusste also über die Brutalität dieses Kriegs Bescheid?

Ja. Bei allen Privatleuten, die ich im Rahmen meiner Recherche aufgesucht habe, gibt es eine Schuhschachtel mit Fotos aus dem Algerienkrieg.

Und welche Bilder haben die zensierten französischen Medien veröffentlicht?

Sowohl die algerische Unabhängigkeitsbewegung als auch die französische Armee hatten ihre fotografischen Dienste. Beide gaben gezielt Fotos an die Nachrichtenagenturen. Anhand dieser Bilder kann man deutlich sehen, wie manipuliert wurde: Die französische Armee präsentierte die algerischen Aufständischen als Gurgeldurchschneider. Die algerische Unabhängigkeitsbewegung wiederum zeigte Folterbilder der französischen Armee.

Hat Letzteres die öffentliche Meinung beeinflusst?

Extrem. Bis 1960 stand die französische Öffentlichkeit auf Seiten ihrer eigenen Armee, weil man der Meinung war, die Aufständischen seien Wilde, die den eigenen Leuten den Hals durchschneiden. Dann aber schlug die Stimmung um, zumal auch die internationale Öffentlichkeit auf die Folterpraxis sensibel reagierte und es unerträglich fand, dass ein Nato-Land systematisch foltert. Und letztlich hat diese Diskussion den Krieg entschieden.