Entdecke den Deutschen in dir

Die Begeisterung vieler türkischstämmiger Berliner für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist eine Überraschung – am meisten für die Einwanderer selbst. Aber nicht alle wollen Schwarzrotgold flaggen

T-Shirts in dem leuchtenden Rot, das die türkische, aber auch die deutsche Flagge ziert, kann man in der Kreuzberger Falckensteinstraße kaufen. Vorn sind sie mit den türkischen Nationalsymbolen Halbmond und Stern bedruckt – nicht in Weiß, sondern in Schwarz und Gold. Zehn Euro kostet eins, doch während der Spiele interessiert sich kein Kunde für die deutschtürkischen Trikots. Der ebenfalls deutschtürkische Wrangelkiez guckt Fußball, und das am liebsten draußen und gemeinsam. In der Falckensteinstraße sind Leinwände und Fernsehgeräte aufgestellt, auf Bänken oder umgedrehten Bierkisten verfolgen die Anwohner die Spiele. Dass am Rande der Menge türkischstämmige Jugendliche deutsche Fahnen schwenken und ab und an „Deutschland, Deutschland!“ rufen, interessiert vor allem die anwesenden Fernsehteams – die neue Begeisterung der Zuwanderer für Deutschland und seine Fußballelf ist zum Medienereignis geworden.

Dass Geschäfte von Einwanderern in Kreuzberg, Neukölln oder Wedding deutsch beflaggt sind, dass Migranten aus der Türkei oder dem Libanon ihre Autos mit der Fahne Deutschlands (gern in Kombination mit der ihrer Herkunftsländer) dekorieren, überrascht – die alten ebenso wie die neuen Deutschen selbst.

„Ich hätte nie gedacht, dass es dazu kommen könnte“, sagt beispielsweise Mürtüz Yolcu, und meint damit seine eigene Begeisterung für das deutsche WM-Team. Der 45-jährige Schauspieler und Organisator des jährlichen Theaterfestes Diyalog lebt seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland. Dass türkische Zuwanderer mit deutschen Fahnen dem deutschen WM-Team zujubeln, findet er „wunderbar“. „Wir haben viel von den Deutschen gelernt“, sagt Yolcu. „Jetzt lernen sie mal von uns: die Liebe zum Fußball und den Umgang mit Fahnen.“ Früher seien doch nur „fanatische Rechte“ mit Fahnen aufgetreten, meint Yolcu – jetzt sei das „etwas ganz Normales“.

Muharrem Aras, Rechtsanwalt und Vorsitzender eines Vereins türkischstämmiger Sozialdemokraten, ist skeptischer. Er habe das Gefühl, „eine Entwicklung verpasst zu haben“, wenn er seine Deutschlandfahnen schwenkenden türkischstämmigen Landsleute sehe, sagt Aras. Der 34-Jährige, selbst aktiver Fußballer, drückt Argentinien die Daumen: „Ich war immer gegen die deutsche Nationalmannschaft“, erzählt Aras. Denn der DFB sei für ihn „die letzte deutsche Hochburg“: „Es hat unheimlich lange gedauert, bis auch mal ein paar Migranten in die deutsche Nationalelf gekommen sind.“ Insbesondere Türkischstämmige hätten bis heute kaum Chancen. Die neue nationale Begeisterung vieler türkischer Migranten für die deutsche Mannschaft sieht er eher mit Beunruhigung: Er findet „Fahnenschwenken generell nicht so doll“. „Vielleicht ist das ja auch nur eine vorübergehende Partystimmung“, meint Aras.

Auch Safter Cinar vom Türkischen Bund vermutet in der aktuellen Deutschlandbegeisterung türkischer Migranten eher „eine temporäre Erscheinung“, die deren Neigung zu Feiern auf der Straße und Autokorsos entgegenkäme. Dennoch glaubt er, dass das Phänomen auch langfristig zu einer „tiefer gehenden Identifikation mit dem Land“ führen könnte. Das wäre zu wünschen, meint Cinar, denn bislang sei die Kluft zwischen Mehrheit und Minderheit groß.

Mürtüz Yolcu ist sich sicher, dass das gemeinsame Fiebern für die deutsche Mannschaft langfristig Folgen hat, denn „die Deutschen kapieren jetzt auch, dass wir dazugehören“. Wie sehr, sei für ihn selbst überraschend, sagt Yolcu: „Durch die WM entdecke ich den Deutschen in mir.“

ALKE WIERTH