Kein Spielzeug für Schweine


AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Mit Schlagzeilen wie „EU-Kommission verlangt Spielzeug für Schweine“ oder „Dekolleté-Verbot für Biergarten-Kellnerinnen“ erfreut die Boulevardpresse regelmäßig ihre Leser. Die Mischung aus einem Körnchen Wahrheit, reichlich Erfindungsreichtum und viel Polemik gegen die verhassten Bürokraten in Brüssel kommt bei den Käufern der Blätter gut an.

Kein Wunder, dass die Kommission in regelmäßigen Abständen versucht, das Image vom bürokratischen Moloch loszuwerden. So hatte Romano Prodi, Vorgänger des jetzigen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso, im Juni 2002 eine „Initiative für bessere Rechtsetzung“ angekündigt. Im Februar 2003 legten seine Mitarbeiter einen Plan vor, wie sie die 80.000 Seiten umfassende Gemeinschaftsgesetzgebung, den sogenannten acquis communautaire, durchforsten wollten. In drei Phasen sollten von Februar 2003 bis Dezember 2004 überflüssige Vorschriften gestrichen, wichtige Gesetze vereinfacht und, sortiert nach Themenbereichen, neu geordnet werden.

Die EU-Regierungen wurden aufgefordert, sich am Großreinemachen zu beteiligen. Im Juni 2004 beklagte die Kommission in einem Arbeitsdokument, dieser Appell sei weder bei den anderen EU-Institutionen noch bei den einzelnen Mitgliedsstaaten auf viel Reaktion gestoßen. Inzwischen aber haben die Regierungen das Thema selber für sich entdeckt. Auf dem Gipfel in Brüssel Mitte Juni beschlossen sie, bis zum kommenden Frühjahr Vorschläge vorzulegen, wie bis zu 25 Prozent der bürokratischen Last aus Brüssel abgebaut werden kann – wie immer man das am Ende messen mag.

Der immer wieder kritisierte, vermeintliche Bürokratiewucher hat natürlich seinen Grund. Denn die oft widerstreitenden Interessen der Mitgliedsländer einerseits und von Kommission und Parlament auf der anderen Seite führen zu Konflikten, die durch Gesetze und Verordnungen kanalisiert werden müssen. Hinzu kommt, dass der EU-Haushalt als reiner Subventionshaushalt anfällig ist für Betrügereien und Misswirtschaft. Als die Kommission unter Prodis Vorgänger Jacques Santer 1999 über finanzielle Unregelmäßigkeiten gestolpert war, führte das zu neuen Gesetzen, mehr Kontrolle, weiter wuchernder Bürokratie.

Schon jetzt ist abzusehen, dass auch die im September 2005 von Industriekommissar Günter Verheugen gestartete neue „Initiative für bessere Rechtsetzung“ sowie sein im Oktober vorgestelltes „Aktionsprogramm zur Vereinfachung der EU-Gesetzgebung“ den Moloch nicht zähmen können. 222 grundlegende Rechtsvorschriften und mehr als 1.400 dazu gehörige Bestimmungen sollen durchforstet werden. In einem ersten Schritt hatte Verheugens Abteilung angekündigt, 68 der derzeit in Arbeit befindlichen Gesetzesvorschläge komplett zurückzuziehen. Bei näherer Betrachtung stellte sich allerdings heraus, dass viele davon sich auf die Beitrittspartnerschaft bezogen und durch den Beitritt von zehn der zwölf damaligen Kandidaten zum 1. Mai 2004 ohnehin überflüssig geworden waren.

Verheugens Papierkorb

Weiteres Papier wurde dadurch eingespart, dass Sicherheitsstandards bei Autos oder technischen Geräten, die derzeit auf UN-Ebene ausgehandelt werden, in der EU-Gesetzgebung entfallen. Am Ende konnte die Kommission für ihre neue Schlankheitsstrategie nur zwei echte Gesetzesprojekte als Belege anführen: Sie zog den Vorschlag zurück, die Fahrvorschriften für Lkws zu harmonisieren und damit indirekt das deutsche Wochenend-Fahrverbot für Lkws abzuschaffen. Und sie verabschiedete sich von der im Volksmund als „Sonnenschein-Richtlinie“ verspotteten Vorschrift, dass Arbeitgeber ihre Beschäftigten über die Gefahren der natürlichen Strahlung aufklären müssen.

Am Beispiel „Sonnenschein-Richtlinie“ lässt sich gut zeigen, wie die Medien das Klischee von der Brüsseler Regelungswut ausschmücken und wie sowohl die Kommission als auch das Parlament aus Sorge vor weiteren Imageschäden zurückweichen. Denn Fachleute sind sich einig, dass übermäßige Sonneneinstrahlung in manchen Berufen, zum Beispiel auf dem Bau, tatsächlich ein bedeutendes gesundheitliches Berufsrisiko darstellt. Dennoch stimmte die Mehrheit der EU-Abgeordneten dagegen, eine Schutz- und Beratungspflicht des Arbeitgebers im Gesetz zu verankern – unter ausdrücklichem Hinweis auf die ohnehin schon antieuropäisch aufgeheizte Stimmung daheim im Wahlkreis.

Das neue Europaparlament habe ein anderes Rollenverständnis als seine Vorgänger, glaubt der auf EU-Politik spezialisierte Speyerer Verwaltungsfachmann Thomas König. Während sich die Abgeordneten früher in erster Linie als Verbraucherschützer begriffen hätten, seien sie heute Vertreter ihrer jeweiligen Interessenverbände. Gesetzgebung werde zunehmend als Innovations- und Wachstumshemmnis wahrgenommen. „Die Kommission spielt mit. Sobald sie Widerstand spürt, zieht sie ihren Vorstoß zurück.“

König hat diese Entwicklung statistisch nachgezeichnet. Bis zur Vollendung des Binnenmarktes Mitte der 90er-Jahre habe die Kommission pro Jahr im Schnitt 180 Verordnungen beschlossen. Seither gehe die Zahl deutlich zurück – 2003 waren es nur 50 Verordnungen. Zwar bleibt die Zahl der Richtlinien konstant zwischen 40 und 60 pro Jahr. Anders als die sofort EU-weit geltenden Verordnungen sind sie aber nur Rahmengesetze und müssen von den Mitgliedsstaaten in nationale Vorschriften übertragen werden. Dieser Prozess läuft schleppend und selten fristgerecht. Für König zeigen die Zahlen, dass Brüssels Einfluss zurückgeht und wieder mehr Macht zu den Nationalstaaten zurückwandert.

Vieldeutige Texte

Ein solcher Zickzack-Kurs, wo der Gesetzgeber weniger den politischen Erfordernissen als den Erwartungen der Interessenvertreter folge, führe aber keineswegs zu handwerklich sauberen Ergebnissen. „Jeder ruft nach besseren Gesetzen, tatsächlich aber werden die Texte immer vieldeutiger“, klagt König. Das bestätigen auch Juristen aus der Kommission und den Mitgliedsstaaten. Die ebenfalls in den Boulevardblättern zu Ruhm gelangte Dienstleistungsrichtlinie ist eines ihrer Lieblingsbeispiele. Nach lautstarken Protesten von Gewerkschaften und einzelnen Berufsverbänden wie Notaren oder Pflegepersonal sind die ursprünglich eindeutigen und leicht umsetzbaren Grundregeln durch eine lange Liste von Ausnahmen ersetzt worden. Viele Klauseln sind so unscharf gefasst, dass die Gerichte wohl noch mehr als bisher damit befasst sein werden, die Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt durchzusetzen.

Nach Ansicht von Insidern hat die EU-Kommission bei diesem Gesetz das Pferd vom Schwanz aufgezäumt. Statt zunächst in einer breit angelegten Anhörungsphase im Internet die wunden Punkte der Interessenverbände ausfindig zu machen und mit einem überarbeiteten Text in den Gesetzgebungsprozess zu gehen, wurde hinterher nachgebessert. Das Ergebnis, so ein Ratsmitarbeiter, sei „ein abschreckendes Beispiel, wie bessere Rechtsetzung nicht funktioniert“.

Vorbildlich sei dagegen die Anhörungsphase zur geplanten Chemierichtlinie Reach verlaufen. Interessenverbänden, regionalen und lokalen Körperschaften sei ausführlich Gelegenheit gegeben worden, die Folgekosten durchzurechnen und Änderungsvorschläge zu machen. Auf dieser Grundlage habe die Kommission einen Entwurf zur Registrierung und Autorisierung chemischer Altstoffe eingebracht, der sowohl die Interessen der Industrie als auch die Sorgen der Verbraucher berücksichtige. „Solche Anhörungen helfen den Kommissionsbeamten, im Raumschiff Brüssel die Bodenhaftung zu behalten“, glaubt der Jurist.

Von der von Günter Verheugen mit Vorschusslorbeeren bedachten neuen Prozedur der „Rechtsfolgenabschätzung“ hingegen hält der Fachmann nicht viel. Das führe zu noch mehr bürokratischem Aufwand und bringe kaum neue Erkenntnisse. Denn die Folgekosten einer neuen EU-Richtlinie für die Praxis ließen sich erst abschätzen, wenn sie in den Mitgliedsländern in Gesetze gegossen sei und Rechtskraft erlangt habe. „Oft entsteht die überbordende Bürokratie gar nicht in Brüssel, sondern bei der Umsetzung im Mitgliedsstaat“, sagt Thomas König und nennt als Beispiel die deutsche Debatte um die Antidiskriminierungsrichtlinie.

Fantasie der Journalisten

Wer sich einen Überblick verschaffen will, welche Kapriolen die Bürokraten in Brüssel tatsächlich geschlagen haben und wo die Fantasie der Boulevardjournalisten Purzelbäume schlug, der wird auf folgender Website fündig: http://europa.eu.int/unitedkingdom/press/euromyths/index_en.htm

Dort sind die „Euromythen“ alphabetisch nach Stichworten geordnet. Die für Briten gruselige Behauptung, die EU-Kommission habe wegen der Maul- und Klauenseuche Teebeutel verboten, findet sich dort ebenso wie die Ankündigung, unter der neuen Elektroschrott-Richtlinie müssten Vibratoren in speziellen Rückgabestellen entsorgt werden. Vom sprichwörtlichen Krümmungswinkel der Banane über angebliche Normgrößen für Kondome bis zum vorgeblichen Verbot sonntäglichen Glockengeläuts gibt es keinen Lebensbereich, dem die EU-Kommission nicht einen wirklichen oder erfundenen Paragrafen gewidmet hat.

„Real happiness is a pig in a toy shop“, ist der Artikel in der Times überschrieben, nach dem Bauern angeblich eine Frist von 90 Tagen bleibt, um jedem Schwein ein Spielzeug in den Schober zu legen – andernfalls drohen drei Monate Haft. An der Geschichte ist, wie so oft beim Thema Bürokratie-Irrsinn, ein Körnchen Wahrheit. Die Tierschutzbestimmungen der EU schreiben vor, dass Schweine „manipulierbares Material“ in Reichweite haben müssen – damit ist aber kein Quietschentchen gemeint, sondern „Stroh, Heu oder Kompost“ – Schweinespielzeug eben.