Übermannung

Von den vielerlei Übungen der Frau Ludwig
von GABRIELE GOETTLE

Uta Ludwig, Leiterin von „Bella Donna“, Fachberatungsstelle für Opfer von Menschenhandel, Frankfurt (Oder). 1960 Einschulung Karl-Marx-Oberschule. 1970 Bezirksbeste bei der Bezirksolympiade i. Bereich Chemie (die Bezirksbesten durften 14 Tage in einem Uni-Labor tüfteln). 1971 Geburt d. Tochter. Ausbildung z. Chemielaborantin i. Leuna, 1974 Abschluss. Abitur 1977 VHS Weimar. Ausbildung z. Krankenpflegerin. 1984 Abschluss. Ab 1985 Studium d. Textilgestaltung a. d. Kulturakademie Marxwalde (extern), Abschluss 1988, daneben verschiedene Tätigkeiten u. a. in d. geschlossenen Psychiatrie (Forensik) d. Uni-Klinik Halle; Knastarbeit i. d. Freizeit; Leitung d. „Wichernheims“ (Pflegeheim) Frankfurt (Oder); künstlerische Leiterin im „Haus der Lehrer“. 1989 Gründung eines Künstler-Clubs, frauenpolitische Aktivitäten, Abgeordnete im Stadtparlament Ff/O. u. Gründung von Belladonna e. V. Der Verein gründet 1990 ein Frauenhaus. Aus diesen Gründungen entwickelte sich die Arbeit der heutigen Fachberatungsstelle Bella Donna, die Arbeitsschwerpunkte sind: Hilfe f. Zwangsprostituierte, Opferschutz, Streetworkarbeit mit Prostituierten, langfristige Zeugenbegleitung, Akquisition v. finanziellen Mitteln. Frau Ludwig ist Verfasserin zahlreicher Texte z. Thema: Sexarbeit, Zwangsprostitution, Migration, Opferschutz- und -hilfe. 1997 wurde sie als einzige Frau Brandenburgs zum Neujahrsempfang b. dam. Bundespräsidenten Herzog eingeladen. Sie ist u. a. Mitglied i. „europäischen Forum f. angewandte Kriminalpolitik“ und arbeitet zusammen mit diversen Frauenselbsthilfe- und Hurenprojekten i. In- und Ausland (Schwerpunkt polen, Ukraine, Weißrussland). Uta Ludwig wurde 1954 als Tochter eines Chemie-Dipl.-Ingenieurs und einer Dipl.-Pädagogin geboren, sie ist geschieden und hat eine Tochter.

Die „Ware Frau“ ist ein Marktsegment, der Frauenhandel zum Prostitutionszweck wird international organisiert. Er wuchs seit dem Ende der Sowjetunion 1991 zum gewinnträchtigsten kriminellen Geschäftszweig der globalisierten Welt. Die Profite überflügeln inzwischen die des illegalen Waffen- und Drogenhandels. Frauenkörper werden unter dem geschäftstüchtigen Zugriff krimineller Profis und Laien zur Ressource. Ihre Plünderung entspricht der Nachfrage, sie unterliegt keinen Börsenschwankungen und geschieht vor aller Augen. Mitteleuropäische Käufer sexueller Dienstleistungen erwarten eine ethnisch breite Palette junger Frauen. Dieses Selbstverständnis teilt der Arbeiter und Angestellte, der sich auf dem polnischen Straßenstrich zum Schnäppchenpreis bedienen lässt, mit dem ehemaligen VW-Manager und Sozialreformer Hartz, dem die Ware nicht teuer genug sein kann.

Unter „normalen“ Bedingungen kaufen in Deutschland schätzungsweise täglich 1,2 Millionen Männer bei 400.000 Prostituierten Sex. Zur Fußball-WM wurde die Einschleusung eines Kontingents von 40.000 Zwangsprostituierten zur Großversorgung der Gäste prophezeit. Die Herkunft dieser Zahl ist heute nicht mehr festzustellen. Mit dieser Zahl und dem Motto: „Abpfiff-Schluss mit Zwangsprostitution“ startete der Deutsche Frauenrat – unterstützt unter anderem von amnesty international, den Kirchen, zahlreichen Verbänden und Gruppen bis hin zum DFB – eine ungeheuer medienwirksame Kampagne, die weltweit Aufsehen erregte. Die Kampagne geriert zum reinen Selbstzweck, die aus der Luft gegriffenen Zahlen und Szenarien haben der Sache mehr geschadet als genutzt. Es hat sich wieder mal erwiesen, Zahlen sagen rein gar nichts. Die ganze Welt ist voller Dunkelziffern. Deshalb wenden wir uns lieber den überschaubaren Einheiten zu.

Das Hilfsprojekt Belladonna residiert in Frankfurt (Oder) in einem dreistöckigen Steinhaus. Im parkartigen Gelände des 1891 gegründeten Lutherstifts ist es ruhig geworden. Heute arbeitet nur noch die Geriatrie, ein Diakonissen-Mutterhaus, ein Altenwohnheim und ein Pflegeheim. Frau Ludwig empfängt uns herzlich und bittet uns in den Konferenzraum. An der Wand hängt eine große Karte der ehemaligen Sowjetunion mit kyrillischer Beschriftung. Solch eine Karte sahen wir zuletzt 1994 in einer eben verlassenen russischen Kaserne. Damals waren wir bestürzt, Europa aus einer so vollkommen anderen Perspektive, klein am linken Rand zu sehen. Frau Ludwig bewahrt ihre Zigaretten in einer alten, graublauen Blechschachtel mit der Aufschrift „Flagship“ auf. Sie nimmt eine heraus, zündet sie an und beginnt zu erzählen:

„Ich habe diesen Verein gegründet. Zwischen 89 und 90 damals – nee, ich fang andersrum an, das hat sich ja eins nach dem anderen entwickelt. Genau zur Wende habe ich einen Künstlerverein gegründet, wir wollten an diesem neuen Gestaltungsprozess ja aktiv mitarbeiten, da eindringen in das Neue. Meine Freunde waren alle beim Neuen Forum damals, es gab da erste Demonstrationen, und bei einer Kundgebung wollte ich einfach nur ein Liebesgedicht vorlesen, aber ich wurde daran gehindert. Statt dessen haben lauter Männer geredet, und ich hörte immer nur: Wir müssen, wir müssen! Ich wollte nicht schon wieder gesagt kriegen, was ich muss! Da habe ich einen unabhängigen Frauenverband gegründet. Ich war dann hier auch mit am Bezirks-‚Runden Tisch‘. Weil sich aber im Frauenverband immer mehr Frauen organisierten und dann outeten als informelle Mitarbeiter der Stasi, gab’s Probleme. Ich sagte, nein, mit solchen Leuten will ich nicht arbeiten. Wer direkt bei der Staatssicherheit gearbeitet hat, okay, der hat seinen Arbeitsvertrag unterschrieben, das lag offen. Aber informelle Mitarbeiter, die sich nebenbei ein Zubrot oder sonstige Vorteile verdient haben und heimlich ihre engsten Freunde bespitzelten, die lehne ich ab. Ich war da ein Hardliner, ich war genug observiert worden, auch von ‚Freunden‘, habe ein paar Hausdurchsuchungen hinter mir, ich wollte diese Leute nicht. Da haben wir paar, die dagegen waren, uns hingesetzt und gesagt, was machen wir nun? Der unabhängige Frauenverband ist sozusagen unterwandert, das Forum ist frauenunfreundlich, das haben die Männer an sich gerissen, da lassen wir uns nicht als Alibi benutzen. Also gründeten wir einen neuen Verein, der hieß erst ‚Brücke‘, dann haben wir ihn aber umbenannt in ‚Belladonna‘. Belladonna e. V., zusammengeschrieben, das ist heute der Träger, und ‚Bella Donna‘, getrennt geschrieben, ist die Fachberatungsstelle. Der Name Belladonna war von mir, ich bin darauf gestoßen, dass das ein sehr interessantes Gift mit vielen Eigenschaften ist, die weisen Frauen haben es benutzt für die ersten schmerzlosen Geburten usw.

Ich saß ja dann auch im Stadtparlament für die SPD und habe da so richtig mitgekriegt, wie das läuft, mit Fraktionszwängen und allem. Ich habe den Sozial- und Gleichstellungsausschuss geleitet, und 1999 hat unser Verein Belladonna dann ein Frauenhaus gegründet. Zu DDR-Zeiten, gab’s das ja nicht, obwohl es viel häusliche Gewalt gab. Ich habe mir dann vom ersten autonomen Frauenhaus in Westberlin das Konzept besorgt. Die Stadtverwaltung hat mich zwei Jahre in ABM angestellt, mein Arbeitsauftrag: Errichten eines Frauenhauses und Frauenzentrums, und für Letzteres haben wir sogar eine kleine, feine feministische Bibliothek mit reingekriegt. Wir hatten ja so viel nachzuholen. Es war eine gute aktive Zeit, vier Jahre lang …“

Eine drahtige dunkelhaarige Frau kommt freundlich grüßend herein. „Das ist Sylvia, eine langjährige Mitarbeiterin“, sagt Frau Ludwig. In freundschaftlichem Tonfall werden ein paar Fragen geklärt. Dann können wir fortfahren. „Ich habe mir damals gesagt, ich will einfach gute, aktive Frauen als Mitarbeiterinnen haben, die Ausbildung ist nicht die Voraussetzung, die können wir später nachholen. Ich habe viele ausgebildete Pädagogen und Psychologen gesehen, die menschlich gar nichts konnten. Mir war einfach ein guter Mitarbeiterstab das Wichtigste. Die sind von überall her gekommen. Sylvia hat früher Kühe gemolken in der LPG und wurde eine der Besten hier. Wir haben uns vom Europäischen Sozialfonds Fördermittel besorgt für Aus- und Weiterbildung und zusammen mit erfahrenen Frauen so eine Ausbildung zusammengeschustert, dreijährig, und die war so hieb- und stichfest, die Mitarbeiterinnen waren so fit und kompetent, dass das Land Brandenburg nach gründlicher Prüfung sagte, das finden wir sehr gut, wir werden diese Ausbildung anerkennen, das hieß ‚sozialpädagogische Mitarbeiter für den Frauenbereich‘. Wir waren Pilotmodellprojekt.

1993 haben wir dann die zwei ersten Prostituierten aufgenommen, sie waren 16 und auf der Flucht. Es war Freitagabend, und weil sie minderjährig waren, hätten wir sie gar nicht aufnehmen dürfen. Beide waren verletzt. Es gab Ärger, wir hatten keine Erfahrungen und ein Riesenproblem, wir waren davon einfach überfordert. Ich hab dann angefangen, mich auch politisch mit diesen Fragen zu beschäftigen. Und inhaltlich, mit Prostitution, Pornografie, SM, Hardcore- und harter Pornografie. Ich hatte ja keine Ahnung, hatte noch nie eine Prostituierte in den alten Bundesländern gesehen – in der DDR gab’s das nicht bzw. nur in einer bestimmten Form, zum Beispiel zu Messezeiten. Ich war befreundet mit einer Frau, die hat sich da als Informationsdame ihr Westgeld verdient, in den 70er- und 80er-Jahren. Sie hat versucht, mir die Vorteile zu erklären, aber das war nicht in meinem Denkvermögen. Und als ich dann das ganze pornografische Material gesichtet hatte, immer erst ein kleines Stück, also ich fand das abstoßend, degradierend, für mich hat das nichts mit Sexualität zu tun, mit Nähe, Intimität. Aber ich wollte mich mit der Materie mal bekannt machen, denn es war inzwischen die Elfriede Steffan vom Sozialpädagogischen Dienst in Berlin bei uns gewesen zu einem Besuch, die sagte, sie brauchen Streetworker zur Aidsprävention im grenzüberschreitenden Raum, nach Polen zu, wir seien ihr als Projekt aufgefallen, und nach einer Viertelstunde waren wir uns einig, wir machen das. Ich dachte, okay, das Frauenhaus läuft, das Frauenzentrum läuft – wir hatten ein wunderbares Haus in der Bergstraße 155, Eckhaus, drei Etagen Frauenzentrum, zwei Etagen Frauenhaus, es gab eine akute Etage, Bibliothek und Café, ein Lesben- und Schwulentreff war drinnen – also das lief alles. Dann muss ich noch dazu sagen, 1994 habe ich mein Mandat abgegeben. Ich hatte schon Magenschmerzen, einerseits habe ich voll in der Praxis gearbeitet, andererseits das Geeiere im Rathaus. Dann kam noch eine Anfrage vom Ministerium, ob ich das ‚Referat Frauenhäuser‘ übernehmen will, das hab ich abgelehnt, ich zieh doch nicht nach Potsdam! Ich bin kein Schreibtischmensch. Ich wollte das alles nicht mehr. Da habe ich der SPD-Fraktion und auch dem Stadtparlament geschrieben als Begründung, mein Anspruch und die Realität der Abgeordnetentätigkeit stimmen nicht überein, ich entscheide mich für die Praxis und gebe mein Mandat ab. Jetzt war ich alles los und konnte mich auf das Neue konzentrieren.“

Sie streichelt unseren Hund, der aufgewacht ist, zündet sich eine Zigarette an und fährt fort: „Ich habe beschlossen, die Streetworkarbeit mit Sylvia zu machen, wir beide kommen sehr gut klar. Das wurde für drei Jahre von der EU finanziert, angeregt durch die WHO, die ein Interesse hatte herauszufinden, wie sich bei einem solchen wirtschaftlichen Gefälle die sexuell übertragbaren Krankheiten ausbreiten, das heißt, unser Auftrag war Aidsprävention und Daten sammeln über die medizinische Infrastruktur usw. Dann war aber das Problem, dass wir eigentlich keine Ahnung hatten von Streetwork und Prostituierten, da haben wir beschlossen, wir müssen kompetente Beratung einholen. Und so haben wir von ‚Hydra‘, dem Prostituiertenprojekt aus Berlin, Hilfe bekommen. Eine Aussteigerin hat uns aufgeklärt über Sextechniken, die Hurenorganisationen haben uns da sehr geholfen, auch ‚Kassandra‘. Als wir uns dann einigermaßen ‚fit‘ fühlten, sind wir los über die Grenze, hatten Sprachmittler dabei von der Universität Viadrina. Ja – aber wie erkennt man nun Prostituierte? Da steh’n zwar Frauen, sehen schick aus, aber die sehen nicht aus wie im Westen, die haben keine Stiefelchen an, nicht diese Arbeitskleidung. Wir haben dann einfach gefragt, auf eine nette, akzeptierende Art, da konnten sie sich entscheiden, wollen sie mit uns reden oder nicht. Wir waren dann fast täglich auf dem Straßenstrich, auch in den Klubs, die anfangs reine Schmuddelklubs waren. Es hat etwa zwei Monate gedauert, dann waren wir drin. Wir hatten überlegt, wie ziehen wir uns an? Ich ging in Schwarz, mit langen Rock, Sylvia ging mehr sportlich. Und wir stießen auch auf so scheinbar kleine Probleme wie das, dass sie kein Gleitgel hatten. in Polen gab’s nur eine Fettcreme, aber die ist katastrophal, denn die macht ja gleich das Gummi vom Kondom kaputt. Da haben wir also Gleitgel mitgebracht in Fläschchen, die bekamen wir vom Sozialpädagogischen Institut kostenlos. heute ist Gleitgel etabliert. Ich war immer so etwas zurückhaltend, wenn wir ins Bordell rein sind, aber Sylvia nicht, die hat gesagt zu den Zuhältern, wenn was vorlag: ‚Also hör mal, du kannst machen, was du willst, aber die Frauen werden nicht geprügelt! Behandle sie ordentlich, und wehe, ich komme das nächste Mal und sehe ein blaues Auge!‘ Irgendwie ist das gut angekommen. Wir hatten eine Ruf. Wir haben uns auf die laufenden Geschäfte nicht schädlich ausgewirkt, vielleicht sogar im Gegenteil.

Es gab zum Beispiel viele Nachfragen der Frauen wegen SM-Sex. Das war neu für die osteuropäischen Frauen, die waren ja keine Prostituierten, und zuvor gehörte das nicht gerade zu ihrem sexuellen Alltag. Es wurde aber immer mehr nachgefragt von den Freiern. Ebenso Sex ohne Kondom. Was wir auch gemacht haben, ist Selbstverteidigungskurse. ‚Kassandra‘ hatte eine Tagung damals und am Ende wurde Selbstverteidigung angeboten. Das konnten wir dann weitergeben an die Frauen, damit sie wissen, was sie machen können bei Übergriffen, wenn Freier nicht bezahlen wollen oder noch mal Sex ‚ohne‘ oder zum selben Preis wollen usw. Wir haben uns darauf spezialisiert, mit den Frauen zu üben, zum Beispiel: Wie zerlege ich das Auto eines Deutschen? Sein Lieblingsteil. Wo fange ich an? Am Kopfteil, an der empfindlichen Verkleidung, das merkt die Ehefrau am meisten! Wir haben dazu richtiggehend ein Seminar gemacht, auf der Straße mit Demonstrationsobjekt. Die Frauen brachten gebratenen Fisch mit und Wodka, das hatten sie von den Bauern besorgt. So ist es in Russland üblich, wenn man zusammensitzt. Es wurde viel gelacht. In der Regel waren das damals meist Russinnen. Und Roma- und Sinti-Frauen aus Bulgarien. Die kommen mit ihrem gesamten Familienverband, der kümmert sich um sie, passt auf, versorgt sie mit Wasser zum Waschen, mit frischen Sachen usw. Das müssen die anderen Frauen alles auch selbst organisieren. Also heute arbeiten wir mit Frauen aus der Ukraine, aus Russland, aus Weißrussland, Kasachstan, mit Tschechinnen und natürlich mit Polinnen. Alle haben natürlich ein Handy. Der Straßenstrich auch hier im Grenzbereich gilt als niedrigste Arbeit, höher angesehen ist die Arbeit im Bordell, wobei ich denke, dass der Straßenstrich besser ist, da muss die Frau nicht animieren, nicht trinken, da geht’s um die reine Dienstleistung fünfzehn bis zwanzig Minuten. Allerdings gibt’s weniger Geld. Also das war so die Hauptaufgabe, den Frauen in diesen Problemen beratend zu helfen. Achtzig Prozent unserer Arbeit haben wir im Grenzbereich gemacht, drei riesige Straßenstrichbereiche und Klubs, zwanzig Prozent der Arbeit war in Brandenburg, wir hatten so um die sechsundzwanzig Bordelle, in die wir gingen, denn wir wussten ja, dass der Zuhälter in Brandenburg meinetwegen auch noch involviert ist in ‚Begleitagenturen‘ auf polnischer Seite.

Und 1995 passierte dann etwas Gravierendes, was unsere Arbeit grundlegend verändert hat: Wir wurden von einer jungen Zwangsprostituierten um Hilfe gebeten und haben versagt. Es war mein Fehler, es war schlecht gelaufen, schlecht getimet, und als wir endlich alles geregelt hatten, war sie nicht mehr da. Wir haben die Geschichte recherchiert, überall nachgefragt, und es stellte sich heraus, sie war siebzehn oder achtzehn, ist durch einen Freund da reingezogen worden, er hat sie zur Prostitution gezwungen, sie eingesperrt, überwacht usw. Da wurde uns klar, wir haben es hier nicht nur mit Prostitution zu tun, mit Aidsprävention und ein paar guten Tricks, wir haben es hier mit handfester Gewalt und Kriminalität zu tun, mit Menschenhandel und Zwangsprostitution. Wir brauchen ein völlig verändertes Hilfesystem. Da habe ich ein Konzept geschrieben und bin damit zum Innenministerium und konnte sie sogar überzeugen. Im Jahr 1996 bekamen wir die erste Schutzwohnung hier finanziert. 1997 haben wir dann die Fachberatungsstelle Bella Donna für Opfer von Menschenhandel gegründet. Alles im Frauenhaus unter der Trägerschaft von Belladonna e. V. Es gab auch Finanzmittel, so dass wir zwei Streetworkerinnen angestellt haben und ich die Gelegenheit hatte, mich aus diesem Arbeitsbereich zurückzuziehen. Ich hatte die Arbeit ja sehr intensiv gemacht und war immer mehr ins Grübeln gekommen mit mir selbst. Ich habe immer mehr das Gefühl bekommen, das ist schmutzig und das haftet auch an mir. Meine Vorstellungen von Sexualität sind andere geworden, haben sich verändert, so dass ich vorsichtiger geworden bin. Also dieses reine Fallenlassen, so wie es früher mal war, das war vorbei. Meine Kollegin, die Sylvia, hat damit überhaupt kein Problem, aber sie ist auch aktive Lesbe, das heißt, sie hat keinen Bezug zur Mann-Frau-Sexualität. Ich konnte jedenfalls von Sex nichts mehr hören, und wenn dann auch noch mein Mann abends was wollte …“, sie lacht und sagt dann ernst: „Es hatte sich für mich was geändert. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte auch nicht das, was ich früher konnte, ich wollte nicht mehr darüber reden.

Und da war das für mich wie eine Fügung. Ich sagte mir, mach, was dir am besten gefällt: Projekte zum Laufen bringen und dann an Mitarbeiter abgeben. Also bin ich raus aus der Streetworkarbeit und habe mich dem Auf- und Ausbau der Fachberatungsstelle gewidmet, die gesamten Außenverhandlungen geführt, bin reingegangen in die politischen Strukturen. Das musste ja alles erst aufgebaut werden, zusammen mit anderen Personen und Institutionen. Heute arbeiten wir eng zusammen mit dem Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, mit den Kommissariaten, dem LKA, dem BKA, dem BGS, Ausländerbehörden, Sozialämtern, Ausländerbeauftragten, Rechtsanwälten, mit den Stellen jenseits der Grenze und natürlich mit den Selbsthilfeprojekten hier und dort, es gibt eine starke Vernetzung. Aber das hat natürlich seine Zeit gedauert, ich kehre jetzt erst mal ins Jahr 98 zurück. Damals bekam ich übrigens, als Auszeichnung für mein soziales Engagement quasi, als einzige Frau von ganz Brandenburg eine Einladung zum Neujahrsempfang beim Bundespräsidenten. In der Einladung stand drin, ich soll in einem kleinen kurzen Kostüm erscheinen. So was hatte ich gar nicht. Und ich hasse es, wenn man mir Vorschriften macht. Also bin ich gar nicht hingegangen. Dann hatte sich hier ein Problem unerträglich zugespitzt, der Bürgermeister hat sich zu meinem persönlichen Feind entwickelt. Ich kannte ihn noch aus DDR-Zeiten, da war er ein kleiner Diakon. Er überzog mich und das Frauenhaus mit Vorwürfen, das ging ein Jahr lang, und wir haben uns besprochen im Vorstand und beschlossen, wir geben das Frauenhaus zum 1. Januar 1998 ab, übergeben es dem Bürgermeister. Der wollte ja nur mich als Person weghaben und war gar nicht vorbereitet.

Wir haben uns deshalb so entschieden, weil inzwischen die Aufgaben Aidsprävention, Streetwork und vor allem Opferbetreuung, Zwangsprostitution, immer intensiver geworden waren. Wir mussten dann natürlich raus aus dem Frauenhaus und uns neue Räume suchen und haben ganz schlechte gefunden, in Eisenbahnnähe, eine Art Kellerwohnung, und dort hat man uns immer noch nachgeschnüffelt. Ich kannte aus meiner Arbeit im Wichernheim die hiesige Oberin vom Lutherstift. Das Wichernheim hat sich ja nach dem Krieg um ‚gefallene Frauen‘ gekümmert, das ist also ein reiner diakonischer Auftrag, und deshalb begreift es die Diakonie auch als ihre Aufgabe, Opfern von Menschenhandel zu helfen. Die Oberin hat uns also das alte Holzhaus angeboten hier auf dem Geländer und inzwischen sind wir ja in einem Steinhaus, wo mehr Platz ist. Im Jahr 2003 wurden wir Mitglied im Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg, und das war das Beste, was wir tun konnten! Hier haben wir ein Dach über dem Kopf und sind in Sicherheit, man lässt uns in Frieden. Wir sind im Dachverband der Diakonie, wir sind ein Länderprojekt und haben eine Länderaufgabe. Inzwischen finden die Vernehmungen der Opferzeuginnen sogar hier in unsere Geschäftsräumen statt, das ist für die Zeuginnen angenehmer als auf einem Revier, sie kennen uns ja.“

Wir bitten sie, uns mal von einem solchen Fall zu berichten. Sie überlegt kurz und erzählt: „Eine junge Frau aus Litauen kam zu uns. An ihrem Geburtstag zu Hause, da hat sie eine Freundin gefragt, wollen wir nicht an irgendeinen See fahren und feiern? Die Freundin hatte einen türkischen Freund. Sie fuhren zu dritt zu einem See, um zu feiern. Aufgewacht ist sie erst wieder, da war sie bereits in Deutschland. Sie sieht, wie ihre Freundin von dem Türken Geld kriegt. Man hatte ihr K.o.-Tropfen verabreicht. Dann wurde sie in ein Eros-Center gebracht, sie war vollkommen unter Schock. Der Pass wurde ihr abgenommen, man schloss ihre Tür ab. Und als sie sich gerade auf Bett gelegt hat, um etwas zur Ruhe zu kommen, da wird die Tür aufgeschlossen und einer kam rein und hat sie vergewaltigt. Das ist die übliche Methode, um die Frauen durch Terror gefügig zu machen. Dort musste sie dann arbeiten, hatte viele Kunden zu bedienen, zehn bis fünfzehn pro Tag. Sie klagt heute noch über Unterleibsschmerzen, ist hoch traumatisiert und kriegt immer so einen Tick, wenn sie davon erzählt. Ganz schlimm! Also sie konnte durch Zufall entkommen und kam zu uns, hat auch umfangreich ausgesagt, das Verfahren lief so etwa zwei Jahre, der Türke wurde verurteilt, dem Mädchen wurde zu Hause der Prozess gemacht, der Menschenhändlerin. Übrigens, fünfzehn bis zwanzig Prozent der am Menschenhandel beteiligten Personen sind Frauen dieser Art. Na ja, das zog sich hin, sie brauchte auch therapeutische Hilfe, und wir haben sehr um einen Aufenthaltsstatus gekämpft. Plötzlich teilte sie uns mit, dass sie zurückwill nach Litauen. Wir haben sehr abgeraten, aber sie hatte Heimweh. Wir sprachen alles mit der Staatsanwaltschaft ab, mit der Ausländerbehörde, dann fuhr sie weg. Wenig später bekamen wir einen herzzerreißenden Anruf aus einem Krankenhaus in Litauen. Man hatte sie erneut entführt, sie sollte in Spanien oder Griechenland als Prostituiert arbeiten. Als sie sich weigerte, hat man mit einer Kalaschnikow aufs Bett geschossen und dabei wurde sie verletzt, am Oberschenkel. Sie hatte dann versucht, sich das Leben zu nehmen, ist aber gefunden worden. Wir haben sie zurückgeholt und gleich der Gerichtsmedizin vorgestellt, denn nur ein gerichtsmedizinisches Gutachten zu den Verletzungen zählt. Sie ist immer noch da, es geht ihr nach wie vor psychisch schlecht, wir machen ‚Nachsorge‘. Sie hat ein Kind von einem deutschen Mann, lebt mit einem deutschen Mann, und kriegt jetzt ein zweites Kind von einem türkischen Mann. Sie sucht immer nach einer Entschuldigung irgendwie, ist aber natürlich unfähig zu einer wie immer gearteten Partnerschaft. Um solche Frauen also kümmern wir uns, setzen ihre Ansprüche durch und begleiten sie.

Zur Erfüllung des Tatbestandes Frauenhandel gehören Nötigung, Zwang und Täuschung. Natürlich sind nicht alle in der Prostitution arbeitenden Migrantinnen Opfer von Frauenhändlern. Viele werden aber nichtsdestotrotz aufgrund ihrer Lage, sozialen Situation, Illegalität mit Verhältnissen konfrontiert, die sie in existenzbedrohende Abhängigkeiten bringen. Und für diese Probleme müssen politische Lösungen geschaffen werden, muss der Status der Frauen sich ändern, dafür kämpfen wir.“

Wir möchten zum Schluss noch ein bisschen über ihre Kindheit und Jugend wissen. „Ach, als Kind wollte ich mal Lehrerin werden für Mathematik und Chemie. Ich liebte es, wenn was knallte und explodierte. Aber es ist anders gekommen. Also bis zu meinem fünften Lebensjahr war ich bei meinem Lieblingsopa väterlicherseits. Das war ein Kommunistenhaushalt, mit Bäckerei und Landwirtschaft. Ab dem sechsten Lebensjahr kam ich dann zu meiner Mutter und ihren Eltern. Das war ein Beamtenhaushalt und von den Großeltern her ein Nazihaushalt. Da passte ich überhaupt nicht hin. Wäre das umgekehrt gewesen, hätte ich für mein Leben bestimmt miese Voraussetzungen gehabt. Ich bin eine Kämpfernatur geworden durch meinen Lieblingsopa. Mit sechzehn habe ich etwas erlebt, das mich geprägt hat. Mehrere Mädchen meiner zehnten Klasse und ich sind am helllichten Tage, mitten in Naumburg von russischen Soldaten mit Koppeln geschlagen und fast vergewaltigt worden. Am Ende haben wir alle im Krankenhaus gelegen. Die Kripo hat uns vernommen und gesagt, wir sollten keine Anzeige machen. Das fand ich ungerecht. Ich war empört. Daraufhin wollte ich aus der FDJ austreten. Man hat mich nicht gelassen, weil ich ja GOL-Sekretär der Schule war. Vor lauter Wut und Protest habe ich meinen FDJ-Ausweis genommen und angezündet beim Fahnenappell. Das hat aber immer noch nicht gereicht als Provokation. So habe ich dann bald darauf eine Fahne runtergerissen, in der Stadt, vor den Augen eines Polizisten. Das war Missachtung von staatlichen Symbolen. Ich musste eine schriftliche Aussage machen bei der Polizei, und da habe ich reingeschrieben: ‚Wenn Marx und Engels diesen Sozialismus sehen würden, dann würden sie sich im Grabe rumdrehen und heulen.‘ Da kam ich dann sechs Wochen in Untersuchungshaft nach Halle. Musste eine Zelle mit sieben kriminellen Frauen teilen – ich war sechzehn – und ich war dermaßen entsetzt in diesen sechs Wochen, dass mich das verändert hat. Ich verlor meinen Studienplatz und bekam eine Menge Auflagen, sollte zu Hause bleiben usw. Also bekam ich mit siebzehn ein Kind und konnte aus dem Haus gehen, hatte einen Mann. So kam ich zu meiner Tochter Mona. Die Sache hat nicht lange gehalten, ich habe mich getrennt und allein gelebt mit dem Kind, erst mal.

Ich habe viel gearbeitet und meinen Mann kennen gelernt. Die zweite Situation, in der ich gesehen habe, wie es wirklich ist, das war so 1975/76. Da habe ich gearbeitet beim Bezirkshygiene-Institut für Umweltschutz in Halle. Wir haben die Emissionswerte für Leuna und Buna gemessen. Ich war zur Geheimhaltung verpflichtet, hatte unterschrieben, dass ich die Werte nicht nach außen geben, zehn Jahre lang. Es gab damals in der DDR kein Emissionsschutzgesetz. Wir sind mit dem Hubschrauber über Leuna und Buna geflogen und haben die Luftwerte gesammelt. Mein Chef hat rote Kreise drumrum gemacht, die durfte ich dann später wieder ausradieren.

Das habe ich dann drei Jahre lang gemacht, und es hat mich wahnsinnig aufgeregt und verbittert, besonders auch, dass die in Leuna nachts die Filter ausgebaut haben, so dass ganz Halle nicht wusste, warum sie gehustet haben. Nach drei Jahren habe ich den Sinn meiner Existenz angezweifelt, ich konnte doch nicht zehn Jahre lang schweigend Werte ausradieren! Ich habe aufgehört und mich in der Psychiatrie beworben und wurde angenommen. Nebenbei habe ich in der Freizeit Leute besucht im Gefängnis, und so lernte ich auch Heike kennen, sie war in Bautzen, weil sie einen Bus angemalt hatte mit ‚Lasst Biermann wieder frei!‘ Also sie war hochgradig motiviert, und wir kamen auf die Idee, wir sollten jetzt Umweltmärsche organisieren in Buna und Leuna – inzwischen war auch meine Schweigepflicht fast um. Wir sind ständig in U-Haft gelandet, natürlich, es gab Hausdurchsuchungen. Sie wurde ausgewiesen, und mich hatte man im Visier. Daran ist auch meine Ehe zerbrochen. Ich war nicht mehr sicher, und da bekam ich über Stolpe einen Job bei der Kirche, im Wichernheim, damals zum Ende der DDR. Das war dann sozusagen der erste Schritt in die Zukunft. Hätte ich das alles nicht erlebt und gelernt, Belladonna wäre längst weg vom Fenster!“