Unter dem Diktat der Zeit

Struck hält Schröder für den besseren Kanzler, Merkel macht aus Deutschland einen Sanierungsfall – warum die Koalition gerade jetzt ihren Frust auslebt

Das hat Merkel von Kohl gelernt: Große Parteien sind nur unter Druck zu Entscheidungen bereit

VON JENS KÖNIG
UND LUKAS WALLRAFF

Sage keiner, die Sozialdemokraten hätten in diesen Tagen schlechte Laune. Als Generalsekretär Hubertus Heil gestern Vormittag vor die Presse tritt, verkündet er gleich zu Beginn, was seiner Partei gerade ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubert. „Die SPD freut sich über einen Wahlsieg in Chemnitz“, sagt Heil und lächelt. Dann schickt er noch ein paar Sätze über die strategische Bedeutung des Erfolgs von Barbara Ludwig hinterher, die am Sonntag mit 49,6 Prozent zur Oberbürgermeisterin der drittgrößten sächsischen Stadt gewählt worden ist.

Ein Wahlsieg. In Chemnitz. Das sagt alles über den traurigen Zustand der SPD. Vor einem Jahr noch feierte die Partei Gerhard Schröder, weil er im Weißen Haus in Washington dem US-Präsidenten die Stirn geboten hat. Heute veranstaltet sie ein Fest, wenn Barbara Ludwig gegen einen gewissen Detlef Nonnen von irgendeiner Provinz-CDU gewinnt.

Der Gedanke an die gute alte Zeit unter ihrem sozialdemokratischen Bundeskanzler verleitet die SPD eben zu den eigenartigsten Reaktionen. Dabei ist die Chemnitz-Nummer noch die harmlose Variante. Der Schmerz des Fraktionsvorsitzenden Peter Struck über den Verlust von Gerhard Schröder hat dagegen politische Sprengkraft. Struck hat in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf die Frage, ob er Schröder als Kanzler vermisse, nicht etwa geantwortet, dass die Frage sich nicht stelle, weil er jetzt einer neuen Kanzlerin diene. Nein, er sagte: „Ja, natürlich. Gerhard Schröder als Sozialdemokrat wäre mir immer der liebere Kanzler. Davon abgesehen: Er war entscheidungsfreudig.“

Struck ist ein alter Hase. Er sitzt seit 26 Jahren im Parlament, er war unter Schröder erst Fraktionsvorsitzender und dann Verteidigungsminister, jetzt ist er wieder Chef der Bundestagsfraktion. Wenn er in einem Interview mal eben so den Vorgänger seiner jetzigen Kanzlerin lobt, dann weiß er, was er damit auslöst: Ärger in der Koalition.

Diesen Ärger hat er sich prompt eingehandelt. Angela Merkel sprach Struck bei der Koalitionsrunde am Sonntagabend auf das Interview an. Die öffentliche Zurückweisung der indirekten Kanzlerin-Kritik überließ sie jedoch ihren Ministerpräsidenten Roland Koch („Bei Schröder wusste man nie, ob er gerade Politiker oder Schauspieler war“) und Christian Wulff. Das war’s dann aber auch schon. In der gestrigen CDU-Vorstandssitzung spielten die Struck-Äußerungen so gut wie keine Rolle mehr. Weitere Empörungsarbeit hielten die Christdemokraten für überflüssig.

Formaler Protest war auch deswegen nicht mehr nötig, weil CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla den SPD-Fraktionschef beim Koalitionstreffen bereits hart angegangen war. Auf die Verteidigung von Struck hin, was er denn sagen solle, wenn er in einem Interview gefragt werde, welchen Kanzler er lieber habe, soll ein Unionsmann geantwortet haben: Am besten nehme man einen Stift und streiche bei der Autorisierung des Interviews einfach die Antwort.

Ein kalkulierter Regelverstoß mit kalkulierter Erregung? Das spricht nicht etwa dafür, dass SPD und Union sich nicht streiten wollen. Das Kalkül ist eher damit zu erklären, dass beide Parteien ohnehin schon seit Wochen im Dauerstreit liegen und es auf einen Zoff mehr oder weniger jetzt auch nicht mehr ankommt. Die kühlen Köpfe unter den Koalitionsstrategen wissen sowieso, dass sie trotz der blank liegenden Nerven das anspruchsvolle Reformprogramm (Gesundheit, Föderalismus, Unternehmensteuern) bis zur Sommerpause bewältigt haben müssen – andernfalls droht aus den Scharmützeln die erste Krise der großen Koalition zu werden.

Für die Gereiztheiten auf beiden Seiten gibt es mehrere Gründe. SPD wie Union haben das Gefühl, dass sie ihre jeweilige Partei in der großen Koalition nicht wiedererkennen. Was den einen die Erhöhung der Mehrwertsteuer war, ist den anderen das Antidiskriminierungsgesetz – eine Zumutung für die jeweils eigene Klientel. Dazu kommen gravierende politische Unterschiede in politischen Kernfragen, was eine Auseinandersetzung der beiden Parteien bei Großprojekten wie der Föderalismusreform und der Gesundheitsreform geradezu zwangsläufig macht. Der irrsinnige Zeitdruck, den Merkel aufgebaut hat, strapaziert da nur zusätzlich die Nerven. Aber die Kanzlerin weiß, was sie tut. Sie hat auch hier von Helmut Kohl gelernt: Große Parteien bewegen sich nicht von allein, man muss sie unter dem Diktat der Zeit zur Einigung über große Reformen zwingen.

Gerade weil die Positionen von SPD und Union in einigen zentralen Fragen so weit auseinander liegen und der Druck zur Einigung trotzdem so hoch ist, bekämpfen sich die Koalitionspartner ja so gern auf Nebenkriegsschauplätzen. Merkels Äußerung in der vorigen Woche, Deutschland sei „auch ein Sanierungsfall“, entspringt dabei dem gleichen Reflex wie das Struck-Interview vom Wochenende: Der Koalitionspartner wird gereizt, die eigenen Reihen werden rhetorisch aufgewiegelt, und das alles in der Hoffnung, die schmerzhaften Kompromisse in den Sachfragen auf diese Weise erträglicher zu machen.

Deswegen hat der SPD-Fraktionsvorsitzende in seinem Interview ja nicht nur Schröder hinterhergetrauert, sondern gleich auch noch erklärt, dass die Sozialdemokraten ihre Reformpolitik auch ohne Mehrwertsteuererhöhung hätten fortsetzen können. Diese sozialdemokratische Lobhudelei sollte den Genossen beweisen, wer die Größten unter den Reformern in diesem Land sind: sie selbst. Gleichzeitig wollte Struck ihnen damit eine schwierige Entscheidung leichter machen. Gestern am späten Abend sollte die SPD-Fraktion der Föderalismusreform ihren Segen geben, obwohl immer noch rund 60 Abgeordnete Bauchschmerzen haben. Sie kritisieren, dass der Bund in der Schulpolitik kein Mitspracherecht hat. Im Präsidium am Morgen hatte Struck klar gemacht, was bei einer Ablehnung der Reform seiner Meinung nach auf dem Spiel steht: das Schicksal der großen Koalition. Den guten Schröder erwähnte er dabei mit keinem einzigen Wort.