Knapp über der Stadt

Auch das Futterheimchen liebt Neukölln: Ein Opel voller Erde, eine Bar, Rollrasen – was will man mehr? Eine gute Presse und Netzwerke der Kunst? Dafür sorgt das Festival „48 Stunden Neukölln“

Als Agenten der Entschleunigung funktionieren viele Orte des Festivals

VON KITO NEDO

Die Frau weiß sofort, was sie stört. Der Totenkopf, „das geht nun gar nicht“, ruft die wasserstoffblonde Mittvierzigerin, die auf dem Freisitz einer asiatischen Imbissbude das Geschehen auf dem Bürgersteig beobachtet. Es ist Samstagnachmittag, und die Künstlerin Nathalie Martin hat gerade in und vor einem Schaufenster eines Billigmodengeschäfts ihre Installation „Watch me while I am sleeping“ arrangiert. Unter einer großen schwarzen Totenkopfflagge schläft eine junge Frau auf einem Podest, um das herum reichlich DIN-A4-große Blätter mit Barcodes verstreut sind, dazu kleine mit Wasser und Milch gefüllte Schüsseln. Vor dem Schaufenster liegt eine weitere Frau zusammengesackt mit geschlossenen Augen, ein älterer Herr beugt sich hilfsbereit zu der vermeintlich Ohnmächtigen hinunter. Andere Passanten ignorieren das Geschehen, ein Mann mobiltelefoniert gedankenverloren und studiert dabei das Mädchen im Schaufenster, als handele es sich um eine Auslage wie jede andere auch.

Nathalie Martin gefällt es, dass die Reizschwelle in dieser Umgebung hoch ist. Seit dem letzten Jahr hat sie an verschiedenen Orten ihre Schlafinszenierungen produziert; nun nimmt sie an dem dreitägigen Kunst- und Kulturfestival „48 Stunden Neukölln“ teil, das am Wochenende zum achten Mal stattfand.

Die Künstlerin ist Anfang dreißig, hat in Nürnberg Kunst studiert, arbeitet viel mit Video und lebt seit sechs Jahren in Berlin. Hier auf der Neuköllner Karl-Marx-Straße interessiert sie sich für den Effekt, der entsteht, wenn man Schlafende an einem Ort positioniert, an dem normalerweise die ungebrochene Aufforderung zum Konsum regiert. Das Konzept der Künstlerin scheint zumindest teilweise aufzugehen: Die in ihrer eigenen Traumwelt versunkenen Schlafenden wirken wie Stolpersteine im geschäftigen Treiben der Shoppingmeile und vermitteln ein Stück weit Intimität, die man nicht kaufen kann.

Als Agenten der Entschleunigung funktionieren viele der insgesamt 140 Orte in Neukölln, die am „48 Stunden“-Festival beteiligt waren. Gegründet wurde die Stadtteilinitiative Mitte der Neunzigerjahre, als die erste Welle negativer Presseberichte den ehemaligen Arbeiterbezirk in Verruf brachte. Neben Kunstaktionen gehören Lesungen, Operngesänge oder auch das träge Dahingleiten per Motorschiff auf dem historischen Teltowkanal dazu. Fast nebenbei können Besucher den Körnerkiez, das Reuterquartier oder die Gegenden um Karl-Marx-Straße, Richardplatz, Flughafenstraße und Schillerpromenade mit Hilfe kleiner praktischer Kiezführer entdecken, die der Festivalveranstalter Kulturnetzwerk Neukölln im Vorfeld produziert hat. Außerdem dienen blaue Logos mit schönen oldschooligen LCD-Ziffern als Wegweiser.

Nicht ganz so einfach ist allerdings die Installation von Peter Grosshauser zu finden, der auf dem leeren oberen Parkdeck der Neukölln Arkaden einen alten Opel Corsa aufgestellt hat. Im Auto selbst befindet sich ein Mini-Biotop, denn der Künstler hat das Wageninnere mit Erde, Pflanzen, fließendem Wasser und drei Packungen Futterheimchen aus der berühmten Zooabteilung des Karstadt-Kaufhauses am Hermannplatz gefüllt. Das Plätschern des Wassers und das Zirpen der Grillen wird mit einem Mikrofon abgenommen und über Lautsprecher verstärkt. Auf einzelnen Autostellplätzen hat Grosshauser Rollrasen ausgelegt, doch die Renaturierung der „Edelbrache“ über den Dächern der Stadt bleibt nur eine Ahnung. Für den Künstler, der auch an eine kleine Bar gedacht hat, besitzt die Fläche die perfekte Höhe: „Man befindet sich knapp über den Häusern und spürt deshalb noch die Stadt.“

Grosshauser kam vor vier Jahren aus der Gegend um Augsburg nach Berlin und fühlt sich wohl in Neukölln. Für kurze Zeit war er Mitbetreiber einer Wohnzimmerbar im Friedrichshain, doch da sei es ihm auf die Dauer zu hektisch geworden, zu „Remmidemmi-mäßig“.

Nun führt er gemeinsam mit der Kulturaktivistin Marion Simon den Off-Raum „Studio Simon“ im zweiten Hinterhof auf der Weserstraße, den er auch als Atelier nutzt. Dort finden unregelmäßig Lesungen, Konzerte und Filmvorführungen statt. Es ist vor allem ein Treffpunkt, um sich zu vernetzen, erklärt der Anfangvierzigjährige, damit gemeinsame Projekte wie etwa eine Band entstehen können. Im Moment ist natürlich WM angesagt, und aus diesem Anlass hat der Künstler, der sein Geld vor allem als Gestalter verdient, an der Stirnseite des „Studio Simon“ die Umrisse eines Fußballtors an die Wand gemalt, „damit man mal die Originaldimensionen wahrnimmt“.

Grosshauser gehört auch zum Umfeld des Kunstraums „t27“ in der Thomasstraße, der aus dem letztjährigen 48-Stunden-Festival hervorgegangen ist. „Ateliers gab es in Neukölln wegen der niedrigen Mieten schon immer“, sagt Martin Steffens, der als Projektkoordinator den Kunstraum leitet. Neu sei jedoch die Etablierung einer Infrastruktur für Ausstellungen in Neukölln, zu der zum Beispiel „t27“ gehört.

Sowohl das Festival „48 Stunden“ als auch der Kunstraum sind Initiativen des Vereins Kulturnetzwerk Neukölln, der sich um die Vernetzung von ganz unterschiedlichen kulturellen Protagonisten im Stadtbezirk kümmert. Dabei werden auch mal andere mediale Assoziationsketten hergestellt, indem etwa der diesjährige „48 Stunden“-Festivalschirmherr Detlev Buck den Stadtteil für „cooler als New York“ erklärt. Anders als dort gebe es in Neukölln jedoch keine Gentrifzierung zu befürchten, erklärt Steffens. Er hat eigens für das Festival eine „t27“-Dependance eingerichtet, in einer verlassenen Toilette einer Bootsanlegestelle an der Wildenbruchbrücke.

Dort, unterhalb des Straßenlevels, hat Susann Kramer eine efeuumrankte Schaukel aufgehängt und ringsumher Rokoko-Kostüme verstreut. Was für Spiele hier stattgefunden haben mögen, kann der Betrachter auf dem von der Künstlerin ausgelegten Pfad nur erahnen.

Und Neukölln? Da ist das Verhältnis von Kramer eher gespalten: „Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, ich muss stark sein hier in Neukölln.“