„Die WM der Diktatur“

Der argentinische Autor Gustavo Veiga über die enge Verbindung von Fußball und Politik in seinem Land

taz: Was haben Fußball und Politik in Argentinien miteinander zu tun?

Gustavo Veiga: Die Verbindung ist sehr eng. Seit der ersten Präsidentschaft Peróns in den 50er-Jahren haben die Regierungen stets versucht, den Sport zu benutzen, um ihre eigene Popularität zu steigern.

Die Weltmeisterschaft 1978 war ganz offensichtlich ein solcher historischer Moment, den die Militärdiktatur versuchte zu ihren Gunsten auszunutzen. Wie erinnert sich Argentinien heute an diese WM, bei der das Land immerhin erstmals den Titel gewann?

Es ist die Weltmeisterschaft der Diktatur, nicht die der Freude über den Titel. Die WM war das sportliche Emblem der Diktatur. Natürlich war es damals etwas Besonderes, dass Argentinien erstmals Fußballweltmeister wurde – aber im Rückblick wiegt die Erinnerung an die Diktatur schwerer. Das ist wie mit den Olympischen Spielen in Berlin 1936. Auch in Chile werden die Worte „Fußball“ und „1973“ immer mit dem mit politischen Gefangenen gefüllten Nationalstadion verbunden sein, nicht mit dem Sieger der chilenischen Liga in dem Jahr. Vor zwei Jahren gab es den Versuch, ein Freundschaftsspiel zu Ehren des Weltmeisterschaftsteams von 1978 zu veranstalten – und niemand ging hin. Das bestätigt, was ich gesagt habe: In der Erinnerung ist es die WM der Diktatur.

In der Bundesrepublik gab es damals eine Diskussion darüber, ob man zu dieser WM im Argentinien der Diktatur überhaupt hinfahren dürfe. Gab es diese Diskussion unter den argentinischen Spielern auch, wenigstens nach dem Ende der Diktatur?

Nein. Erst vor fünf bis zehn Jahren hat in Argentinien überhaupt eine Diskussion darüber begonnen, ob und welche Verantwortung die populären Sportler während der Diktatur eigentlich hatten und ob man vielleicht nicht hätte spielen sollen. Der Einzige, der selbstkritisch war, war der Mittelfeldspieler Osvaldo Ardiles. Er sagte im Rückblick, dass er sich von der Diktatur benutzt fühlte. Der Rest der Spieler weigert sich anzuerkennen, dass Diktatur und WM untrennbar miteinander verbunden waren. Daniel Bertoni, der im Finale ein Tor gegen die Niederlande schoss, sagt bis heute, er habe schließlich nicht mit [den Generälen] Videla und Massera Doppelpässe gespielt.

Kommen wir zur WM 2006: Wie wichtig ist es für die Regierung Kirchner, dass Argentinien am Freitag gegen Deutschland gewinnt?

Es ist wichtig. Argentinien hat viele Probleme, von denen nicht alle in kurzer Zeit zu lösen sind. Jeder sportliche Erfolg hilft der Regierung, denn sie kann vieles durchsetzen, wenn die Bevölkerung – ich will nicht sagen, in Narkose ist, aber eben vor allem Fußball im Kopf hat.

Das scheint in Deutschland wenig anders …

Es gilt für jede Regierung, ob Diktaturen oder Demokratien. Die Frage ist, was nach der WM passiert, wenn ein Land zum Normalzustand zurückkehrt.

Und wer gewinnt am Freitag?

Ich wette nicht, ich finde das unseriös – Fußball ist einfach unvorhersehbar. Aber Deutschland ist stark, und wenn die Argentinier nicht ein paar Dinge verändern, werden sie verlieren. Allerdings: Es ist ja kein Zufall, dass argentinische Spieler überall auf der Welt gekauft werden: Sie können sich anpassen, auch an so schwierige Situationen wie die, in Deutschland gegen Deutschland zu spielen.

INTERVIEW: BERND PICKERT

Am kommenden Mittwoch stellt Gustavo Veiga sein jüngstes Buch „Sport, Verschwundene und Diktatur“ in Berlin vor. taz-Café, Kochstraße 18, 19 Uhr