„Bislang muss Lidl den Boykott nicht fürchten“

Der Discounter Lidl ist berüchtigt, weil er Mitarbeiter, die einen Betriebsrat gründen wollen, drangsaliert. Ändern könnten das die Konsumenten – wenn sie sich moralisch verhalten, so der Wirtschaftsethiker Michael Schramm

taz: Herr Schramm, die Gewerkschaft Ver.di hat eine neues „Schwarzbuch Lidl“ veröffentlicht, das kein gutes Haar an den Praktiken des Discounters lässt. ArbeitnehmerInnen-Rechte würden, wo immer möglich, ausgehebelt. Jetzt schickt sich der Konzern an, sein „Geschäftsmodell“ verstärkt nach Osteuropa zu exportieren. Wie bewerten Sie als Wirtschaftsethiker diese Entwicklung?

Michael Schramm: Es ist von außen schwer zu beurteilen, was an den Vorwürfen konkret dran ist. Da wird teilweise auch Feindbild-Rhetorik gepflegt, wenn im Ver.di-Schwarzbuch von „aggressiver Expansion“ zum Beispiel in Polen die Rede ist. Das ist nun mal ein ganz normales Bestreben eines Wirtschaftsunternehmens, zu expandieren. Doch es gibt bei Lidl weiterhin ganz klar Zustände, die man kritisieren muss – zum Bespiel den Versuch, Mitarbeiter einzuschüchtern, die einen Betriebsrat gründen wollen.

Macht es für ein Unternehmen eigentlich Sinn, mit einer eingeschüchterten Belegschaft anzutreten – oder rächt sich das irgendwann?

Die Wahrheit ist leider, dass man das nicht genau weiß. Ob sich eine Firma unter unternehmensethischen Gesichtspunkten bemüht oder das krasse Gegenteil praktiziert – die ökonomischen Effekte sind unklar, oder vornehmer wissenschaftlich ausgedrückt „kontingent“. Da sich im Fall Lidl aber die Skandale häufen und die Schwarzbuch-Kampagne fortgesetzt wird, kann es durchaus sein, dass der Konzern längerfristig in die Defensive gerät. Das kann bis hin zu Boykottaufrufen gehen. Lidl hat ja auch schon reagiert.

Dem Konsumenten ist doch aber herzlich wurscht, wie es hinter den Ladentüren für die MitarbeiterInnen aussieht – solange nur die Ware billig bleibt.

Da sind die Konsumenten selbst schuld: Wenn sie nicht bereit sind, für Nahrungsmittel mehr als einen Bruchteil ihres Einkommens auszugeben, stärken sie das System Lidl. Aber ich glaube nicht, dass die Kundschaft eines solchen Discounters die Arbeitsbedingungen und Probleme, die hier angeprangert werden, gut findet. Es führt nur bislang nicht zu einem Effekt, den Lidl fürchten müsste. – Aber niemand, auch Lidl nicht, weiß, welcher Druck sich künftig vielleicht noch entwickelt.

Andere Lebensmittelketten, auch Discounter, gehen anders mit ihren MitarbeiterInnen um – und machen trotzdem Gewinne. Geraten Unternehmen, die wie Lidl ein sehr negatives Image haben, nicht auch so unter Druck?

Es gibt auch im Einzelhandel riesige Unterschiede: Konzerne, die sich bemühen, ihr ökonomische und moralisches Interesse zu vereinbaren. Und solche, bei denen das weniger der Fall ist. Die Drogeriemarktkette „dm“ fällt zum Beispiel positiv durch besondere Mitarbeiterorientierung auf. Man kann mit beidem im Markt erfolgreich sein. Ich würde mir natürlich immer wünschen, dass Unternehmensethik hoch im Kurs steht und solche „Schwarzbücher“ gar nicht geschrieben werden müssen.

Gibt es auch eine Art negativen Wendepunkt? Wenn die Arbeitsbedingungen so mies sind, dass ein Unternehmen gar keine Mitarbeiter mehr findet?

Bei Lidl & Co. geht es ja um einfache Arbeiten und zumeist um gering qualifizierte Menschen. Viele Frauen, Teilzeitkräfte, Geringverdiener. Die können sich ihre Jobs nicht aussuchen und sind viel stärker von Arbeitslosigkeit bedroht. Insofern stärkt die aktuelle Situation auf dem überfüllten Arbeitsmarkt auch den Spielraum solcher Unternehmen.

Die Erkenntnis, dass ein Unternehmen nur mit motivierten Mitarbeitern, die es mit Respekt behandelt, wirklich erfolgreich sein kann, entspricht also nicht ganz der Wahrheit?

Ab der mittleren Führungsebene sicherlich: Diese Leute haben Alternativen, können zur Konkurrenz abwandern. Auch Lidl zahlt in diesem Bereich mittlerweile besser als früher.

Nun gehört der Lidl-Konzern der Familie Schwarz. Und die finanziert über eine Stiftung ausgerechnet eine Professur für Wirtschaftsethik. Wie geht denn das zusammen?

Wenn man das eine tut, muss man ja das andere nicht lassen. Das Engagement als solches ist ja nichts Verwerfliches. Und man kann ja auch dem Unternehmen sagen: Ihr unterstützt da einen Lehrstuhl für Wirtschaftsethik – dann müsst ihr aber auch vor der eigenen Tür kehren.

Es heißt, der Kunde sei König. Wie kann denn König Kunde generell für mehr Ethik in der Wirtschaft sorgen?

Theoretisch haben Kunden wirklich große Macht. Dummerweise braucht es immer erst eine kritische Masse, bis das auch empirisch sichtbar wird. Von den Konsumenten muss man – wie von den Unternehmen – verlangen, dass sie ihre ökonomischen und moralischen Interessen vereinbaren. Ich selbst kaufe beispielsweise bei Lidl fast gar nicht ein.

INTERVIEW: STEFFEN GRIMBERG