Imitation of Life

Nicht mehr, noch nicht: „Lucy“, der zweite Film des jungen Berliner Regisseurs Henner Winckler, porträtiert eine heranwachsende Mutter

von DIETMAR KAMMERER

Vor einem achtzehnten Geburtstag gibt man sich gern der Illusion hin, dieser Termin sei so etwas wie eine genau definierte Schwelle, ein Höhenkamm, von dem aus man seine Vergangenheit überschauen und einen Zipfel der Zukunft erfassen kann. Ist man schließlich achtzehn, dämmert es: Die Verhältnisse sind nun vollkommen verworren. Man mutiert zum Zwitterwesen: gefangen im Zwischenreich des „nicht mehr“ und „noch nicht“. Vom Erwachsensein weiß man, wie es aussieht, aber nicht, wie es sich von innen her anfühlt.

Auch Maggy (Kim Schnitzer) lebt dieses Paradox, nur bleibt ihr im Gegensatz zu den meisten ihrer Altersgenossinnen keine Zeit, sich darin zurechtzufinden. Denn Maggy hat eine kleine Tochter, Lucy, und vom gleichaltrigen Vater des Kindes hat sie sich eben im Streit getrennt. Früher wäre das keine große Sache gewesen: eine Beziehung auflösen. Zanken, vielleicht Tränen, dann die beste Freundin anrufen. Jetzt kriegt alles, was einst wie ein Spiel betrieben wurde, die Vorzeichen des Endgültigen. So lebt Maggy ein Doppelleben. Als sie den etwas älteren Gordon (Gordon Schmidt) kennen lernt, erzählt sie ihm zuerst, das Kleinkind, das sie wickeln muss, sei ihre kleine Schwester. Manchmal geht das gut. Wenn sie durch die Clubs ziehen will, ruft sie einen ehemaligen Klassenkameraden an und schiebt ein Vorstellungsgespräch vor, damit der auf Lucy aufpasst. Irgendwann wird dieser Freund, der gerne mehr als das wäre, per Telefon mitteilen, er habe selbst wichtige Termine.

Bereits in seinem Debüt „Klassenfahrt“ hat Regisseur Henner Winckler die Sorgen und Nöte von Heranwachsenden thematisiert. Sein zweiter Film, „Lucy“, der zum Teil dasselbe Personal versammelt, verhandelt ähnliche Probleme, verschiebt aber entscheidend die Perspektive. Statt im geschlossenen Kosmos eines Schulausfluges stehen die Protagonisten von „Lucy“ sozusagen vor dem Problem der pluralen Welten: In welchen Räumen kann oder muss man welche Person sein? Wer ist man, wenn man als Kind selbst ein Kind hat? Wo ist mein Ort?

Auf ihrem alten Schulhof, den Maggy mit dem Kinderwagen besucht, wirkt sie verloren, beim Läuten der Klingel strömen die anderen an ihr vorbei, als wäre sie überhaupt nicht anwesend. In der Diskothek kann sie sich von schmierigen Typen mit Tequila abfüllen und abschleppen lassen, aber sie weiß, dass sie für solche Eine-Nacht-Ficks doch schon zu erwachsen ist. In der Wohnung ihrer Mutter Eva (Feo Aladag) ist sie die Tochter, die die Fehler der Mutter wiederholt. Als sie den fürsorglichen Druck und das schlechte Gewissen von Eva nicht länger aushalten kann, packt sie ihre Sachen. In der Wohnung von Gordon, der Lucy akzeptiert, bemüht sie sich, die Vorstellungen eines harmonischen Vater-Mutter-Kind-Familienglücks zu verwirklichen, das sie selbst nie erleben durfte. Anfangs scheint alles prima zu laufen. Miteinander eine neue Waschmaschine aussuchen, zusammen abends auf dem Sofa fernsehen, Bekannte zum Essen einladen, damit die sehen können, wie toll das klappt mit dem Familienidyll. Imitation of life, und wenn es das eines Spießbürgers ist.

Wenn Maggy und Gordon versuchen, sich in einem Schablonenleben einzurichten, dann deshalb, weil sie glauben, innerhalb eines festen, vorgegebenen Umrisses müsste der Rest des gewohnten Lebens nicht auch noch umgeschrieben werden. Als würde das Elterndasein nicht bedeuten, zu allem neue Einstellungen zu entwickeln, für neue Handlungen und Gesten ein neues Körpergefühl zu finden: Windeln wechseln, mit dem Kinderwagen durch den Park gehen, sich in der Kita von der Tochter verabschieden. „Ist doch ganz locker“, meint Mike (Ninjo Borth), der Kindsvater, der irgendwann wieder vor der Tür steht. „Das täuscht“, gibt Maggy trocken zurück.

„Mir war wichtig, dass Maggy ihre Tochter zwar liebt, aber zugleich wie einen Fremdkörper wahrnimmt, für den sie noch kein Gefühl hat“, hat Henner Winckler im Interview zu Protokoll gegeben. Der Film nimmt die gleiche Haltung ein. Er wahrt eine Distanz, die Figuren gegenüber Verständnis zollt, die ihr eigenes Handeln zuweilen selbst als fremdartig erleben müssen. Vieles, was eine Erklärung sein könnte, wird dem Zuschauer vorenthalten. Nicht nur die gesamte Vorgeschichte der Figuren, sondern auch scheinbar unwichtige Details, die spürbar werden gerade durch ihr Ausbleiben. Etwa, wo all das neue Computerzubehör herkommt, das Gordon in gefütterte Briefumschläge packt und übers Internet weiterverkauft. Ob der Kunde, der sich seine Bestellung persönlich abholt, den ganzen vereinbarten Preis zahlt oder ob er die Ahnungslosigkeit Maggys ausnutzt.

In dieser Dramaturgie der Aussparung schafft es die Kamera von Christine Maier, ganz nah dranzubleiben an den Gesten und Gesichtern, ohne dieser Nähe einen Affekt abpressen zu müssen. Die Strenge des Blicks auf die Protagonisten entsteht eher aus der Genauigkeit des Beobachtens, aus einer Selbstdisziplin des Hinsehens, als aus dem Zwang zur Wertung. Winckler hält nichts von Bevormundungen, die erspart er seinen Figuren und seinen Zuschauern. Deshalb setzt er auch keine Musik ein oder nur solche, die aus der Szene selbst stammt. Was passiert, passiert und braucht deshalb auch nicht weiter kommentiert zu werden. Die dramatische Linie – und „Lucy“ ist bei aller unprätentiösen Zurückgenommenheit ein enorm dramatischer Film – zeichnet keine Höhen und Tiefen, sondern folgt einer anderen räumlichen Achse: der von Nähe und Distanz und wie beides in ein Gleichgewicht zueinander gebracht werden muss. Meistens spielt der Film in engen Innenräumen, aber selbst diese Räume können noch durch Türen unterteilt werden, die Räume des Rückzugs oder des Ausschlusses herstellen. Verglaste Wände oder Fensterscheiben trennen die Menschen, lassen eine Kommunikation aber immerhin noch möglich sein.

Irgendwann gesteht Gordon, der immer öfter mit Freunden unterwegs ist, anstatt zu Hause zu bleiben, er habe sich sein Leben „relaxter“ vorgestellt, woraufhin Maggy ihm antwortet, sie ebenfalls. Dieser Dialog baucht keine Glasscheibe dazwischen, um spürbar werden zu lassen, welche Entfernungen in der Nähe möglich sind.

„Lucy“. Regie: Henner Winckler. Mit Kim Schnitzler, Feo Aladag u. a. Deutschland 2006, 92 Min.