Schwarzgrau auf nächtlicher Brücke

Bei „Glut“ - Krisana“ von Fred Kelemen ist in langen, düsteren Einstellungen wenig zu sehen

Zu einem seiner frühen Kurzfilme, in dem ein Auto in einen Tunnel fuhr, und die Kamera für die gesamte Dauer der Durchfahrt weiterlief, wurde Wim Wenders einmal gefragt, warum er denn diese lange Sequenz, in der auf der Leinwand alles schwarz blieb, ungekürzt im Film gelassen habe. „Der Tunnel war nun mal so lang!“, war seine Antwort. Heute würde sich kaum noch jemand trauen, einem Filmkünstler solch eine vermeintlich ignorante Frage zu stellen, und so muss der Zuschauer selber rätseln, warum in der Anfangssequenz von Fred Kelemens „Glut“ ein Mann so lange des Nachts über eine Brücke in Riga geht. Dazu noch in Schwarzweiß oder genauer Schwarzdunkelgrau. Man sieht kaum etwas, aber die Brücke ist nun mal so lang. Dass auch der Spaziergänger selber vieles nicht sieht, führt dann zu tragischen Verwicklungen. Aber die Form beherrscht in diesem Film eindeutig den Inhalt, denn es bleibt die gesamten 90 Minuten bei diesen ungeschnittenen Einstellungen, deren Länge dadurch bedingt scheint, dass das Austrinken einer Wodkaflasche, Büroarbeiten in einen Archiv oder das langsame Gehen bis zu einer Straßenecke nun mal so lange dauern.

Mit diesen zum Teil recht komplexen Plansequenzen scheint Fred Kelemen es darauf hin angelegt zu haben, möglichst viel im Dunkeln zu lassen. Die Geschichte wird wie nebenbei und scheinbar ohne viel Interesse daran erzählt – es ist fast so, als wäre sie nur zufällig ins Blickfeld der Kamera geraten, als diese dem Mann folgte. Der heißt Matiss Zelcs, arbeitet im lettischen Landesarchiv und trifft auf der nächtlichen Brücke eine Frau, die im Begriff ist, sich in die Tiefe zu stürzen. Kurz begegnen sich ihre Blicke, er wendet sich ab, hört wie sie ins Wasser springt und ruft die Polizei an. Doch späte Reue treibt ihn dazu, Nachforschungen anzustellen. Er findet die Handtasche der Frau, nicht zu Ende geschriebene Abschiedsbriefe und Fotos. Sie wird zu seiner Obsession, er rekonstruiert ihr Leben, findet ihren Liebhaber und verursacht dadurch weiteres Unheil. Dieser Plot ist erstaunlich konventionell gestrickt und es fehlt auch nicht die bitterironische Schlusspointe. Diese Diskrepanz zwischen Inhalt und Form irritiert zunehmend. Der ungarische Regisseur Béla Tarr, für den Kelemen als Kameramann arbeitete, und dessen Einfluss hier deutlich spürbar ist, würde nie solch eine zwar posthume, aber dennoch adrette Dreiecksgeschichte mit schwermütig langen Kamerablicken kreuzen. Weil Buch und Ästhetik nicht zusammenpassen, gibt es dann auch einige ärgerliche Stilbrüche. Wie in einer schlechten Fernsehserie liest etwa Matiss sich selber (also eigentlich uns Zuschauern) laut die Briefe der Frau vor, und bei einem Streitgespräch zwischen ihm und dem Geliebten der Frau umkreist die Kamera mehrmals den Tisch der beiden. Man spürt deutlich, dass Kelemen hier jeweils zwischen den Sprechenden wechseln wollte, die dafür geeignete Montagetechnik mit Schuss/Gegenschuss aber unbedingt vermeiden wollte und sich deshalb mit dieser stilistischen Krücke behelfen musste.

Kurios an „Glut“ ist zudem, dass hier mehr auf der Tonspur als bei den Bildern geschnitten wurde. Man hört ständig Geräusche, Gespräche, spielende Kinder oder Hundegebell, das auf ein Geschehen, vielleicht sogar ein interessanteres Geschehen, knapp außerhalb des Bildrahmens hinweist. Auch hiermit weist Kelemen darauf hin, wie willkürlich und fragmentarisch jedes Bild ist. Aber warum lässt er, der hier stilistisch so reduziert, dass die dänischen Dogmafilme dagegen wie barock inszenierte Unterhaltungsproduktionen wirken, die gleiche Rigorosität beim Skript so halbherzig vermissen? Wilfried Hippen