Gesundheit schafft Klassen

Verfall, Erhalt und Lebensqualität – darüber tobt längst ein Verteilungskampf. Wer die Bandscheibe schonen kann, hat’s besser

VON BARBARA DRIBBUSCH

Artikel wie jener neulich im Spiegel beruhigen ja immer. Jedenfalls die Angehörigen von Mittelschichts-Berufen, die täglich Abwechslung, intellektuelle Anforderungen und Kreativität erleben. Geistige Aktivität, soziale Kontakte und körperliche Bewegung „lassen neue Nervenzellen sprießen“, haben Neurobiologen laut dem Nachrichtenmagazin erkannt. Wer sich also nicht in einem monotonen Job verschleißen muss, sondern täglich ein bisschen Gehirnjogging betreibt, bleibt länger jung.

Sich nicht so betroffen fühlen müssen von körperlichen und geistigen Abbauprozessen – das wird in einer alternden Gesellschaft zur neuen, wichtigen Verteilungsfrage und hat längst die Sozialforscher auf den Plan gerufen. Das unterschiedliche Niveau an intellektuellen Möglichkeiten zwischen oberen, mittleren und unteren Schichten sei dabei „ein Feld unter mehreren, wo sich soziale Ungleichheiten“ zeigen, sagt Rolf Rosenbrock, Gesundheitsexperte am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Privileg Gehirnjogging

Im Beruf Gehirnjogging betreiben zu dürfen ist ein Vorzug der Mittelschichten. Auch der körperliche Verschleiß hält sich in Angestelltenjobs in Grenzen. „Vor allem körperlich belastende Tätigkeiten auf dem Bau, im Fernverkehr, in der Pflege, in Restaurants, führen zu gesundheitlichen Einschränkungen“, sagt Marco Schade, Vermittler in der Arbeitsagentur Berlin-Mitte.

Unter Schades Klienten, denen wegen gesundheitlicher Probleme die Langzeitarbeitslosigkeit droht, finden sich vor allem ArbeiterInnen aus Industrie und Dienstleistung. Zwar plagen sich auch Büroangestellte mit Bandscheibenproblemen herum, „aber die haben noch mehr Möglichkeiten, Pausen zu machen, die Sitzgelegenheiten zu verändern oder sich anderweitig zu entlasten“, berichtet Schade.

Wer hingegen in Zehn-Stunden-Schichten auf „dem Bock“ einen Lastzug steuern oder volle Tabletts durch Restaurants schleppen muss, hat kaum eine Chance auf Erleichterung. Verschleißerscheinungen an Bandscheiben, Knien, Schultern und Handgelenken sind die Folge. „Serviererinnen kommen nach 15, 20 Berufsjahren her und sagen mir: ich kann einfach nicht mehr“, erzählt Schade. Der Vermittler muss dann prüfen, ob sich eine Umschulung lohnt. Manchmal gehen die gesundheitlich Angeknacksten auch auf Teilzeit und müssen dann ergänzendes Arbeitslosengeld II beantragen.

Rosenbrock vom WZB hat die Erkrankungsrisiken in Verhältnis zu Einkommen, Bildung und beruflichen Status gesetzt. Das Ergebnis: Das am wenigstens gebildete und ärmste Fünftel in Deutschland trägt generell ein doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben, wie die obersten 20 Prozent. Dies zog sich durch fast alle Diagnosegruppen. Nur bei Brustkrebs, leichteren Allergien und Alkoholismus sind die besser Gestellten genauso betroffen wie die sozial schwächeren Schichten – was dem Klischee widerspricht, dass vor allem die Ärmeren zur Flasche greifen.

Während ArbeiterInnen aufgrund von Muskel- und Skeletterkrankungen weit mehr als doppelt so viele Fehltage haben wie Angestellte, liegen beide Gruppen bei den psychischen Erkrankungen allerdings gleichauf, heißt es im BKK Gesundheitsreport 2005 der Betriebskrankenkassen. Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Telefonistinnen, aber auch Hilfsarbeiterinnen oder Postverteiler fehlen vergleichsweise häufig wegen seelischer Störungen. Unter den Berufsgruppen der Frauen werden den Montiererinnen am häufigsten Antidepressiva verordnet – ein Zeichen wiederum, dass Gemütserkrankungen keinesfalls ein Mittelschichtsproblem sind.

Gar nicht mehr zu arbeiten ist jedoch immer besonders ungünstig. „Arbeitslose tragen bei fast allen Diagnosen das höchste Erkrankungsrisiko“, berichtet Rosenbrock.

Die unteren Schichten haben die verschleißendsten Jobs – dass die Sozialpolitik die Ungleichheit noch verstärkt, davor warnt ein Kurzbericht des Nürnberger IAB-Instituts zur kommenden „Rente mit 67“. „Ergebnisse der Altersforschung belegen eine mit dem Alter zunehmende Heterogenität des Gesundheitszustandes“, so die Forscher. „Nicht alle Älteren werden gesundheitlich in der Lage sein, auch nur annähernd bis zum Alter von 67 Jahren zu arbeiten.“ Deshalb werden laut IAB gerade die gering Qualifizierten mit belastenden Jobs im Alter lange Phasen der Arbeitslosigkeit mit geringen Einkommen und späteren Minirenten in Kauf nehmen müssen.

Bürde Verschleißjob

Wer also die Zeche zahlen soll für die sozialen Kosten einer alternden Gesellschaft, dazu laufen längst offene und heimliche Verteilungsprozesse. Sie sind überlagert von Gesundheitsmoral und Fitnesszwang. Das Klischee der rauchenden, trinkenden Unterschicht, die übergewichtig vor den Fernsehern hockt, RTL guckt und nicht auf die Idee kommt zu joggen, wird dabei gerne von Angehörigen der Mittelschicht bemüht, um die Eigenverantwortung der weniger Privilegierten anzumahnen.

Wer aber behauptet, die Leute trügen durch ihre mangelnde Vorsorge selbst zu ihrer schlechten Gesundheit bei, dem hält Rosenbrock die Erkenntnisse der Sozialwissenschaft entgegen: Danach erklären sich die Unterschiede in der körperlichen und seelischen Verfassung „zu weniger als der Hälfte“ aus dem Verhalten der Betroffenen. Viel wichtiger sei das soziale Gefälle, das schon im Kindesalter etwa die Chancen auf gesunde Ernährung und sportliche Anregung ungleich verteile.

Doch die Unterschichten lassen sich nicht vollends abkoppeln. „In der Gesundheitsversorgung wird das meiste Geld für die Behandlung chronischer Krankheiten ausgegeben“, sagt Rosenbrock. Und vor allem weniger Privilegierte bekommen schon früh chronische Erkrankungen. So haben die Allgemeinen Ortskrankenkassen, in der mehr gering Verdienende versichert sind, im Schnitt kränkere Patienten als die Ersatzkassen wie etwa die Technikerkasse, die verhältnismäßig viele gut verdienende Angestellte in ihrer Mitgliedschaft aufweist.

Die Ausgaben pro Versicherten liegen bei den Ersatzkassen im ambulanten Bereich aber höher als bei den AOK-Versicherten, sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. AOK-Versicherte werden trotz ihres schlechten Gesundheitszustandes weniger aufwendig behandelt als die Ersatzkassen-Mitglieder. Wer schon einmal Psychotherapeuten hat erzählen hören, wie ungern mancherorts AOK-Versicherte in Behandlung genommen werden, weil es für sie weniger Geld pro Therapiestunde gibt als bei den Ersatzkassen, dem dämmert, dass hierzulande längst eine schichtenspezifische Medizin existiert.

Die Mittelschichtmilieus holen sich ihre höheren Beiträge nicht nur über eine bessere Behandlung, sondern auch über die Langlebigkeit wieder zurück. Nach einer Studie von Lauterbach leben Menschen, deren Monatseinkommen über 4.500 Euro liegen, im Schnitt sieben Jahre länger als Menschen, die weniger als 1.500 Euro verdienen. Wer aber länger lebt, geht auch länger zum Arzt und bezieht länger Rente. Leute mit geringerem Einkommen finanzierten daher mit ihren Beiträgen indirekt einen Teil der Altersversorgung der besser Gestellten, hat Lauterbach errechnet.

Doch welches Mehr an Lebensqualität kann man mit eigenem Geld eigentlich kaufen- wenn man mal von Anti-Aging-Kuren oder Wellnessbehandlungen absieht? Spezialisten für bestimmte Krankheiten lassen sich zunehmend privat bezahlen. Teure Zahnimplantate, die von der Kasse nicht übernommen werden, ersparen Älteren die Prothese im Mund. Und durch die Praxis der Terminvergabe bei Ärzten gebe es zunehmend eine „Zweiklassenmedizin“, rügt Rosenbrock. Wer privat versichert ist, bekommt bei manchen Fachmedizinern erheblich schneller einen Termin, während gesetzlich Versicherte mitunter wochenlang warten müssen.

Die Alterung der Gesellschaft lässt die Unterschiede zwischen arm und reich deutlicher hervortreten. Diese Heterogenisierung werde sich „vor allem in der Pflege noch stärker bemerkbar machen“, prophezeit Rosenbrock. Die kollektiv gezahlte Pflegeversicherung trägt immer nur einen Teil der Kosten. Privates Vermögen dürfte dann vielleicht nicht nur über Wellness und Luxus entscheiden, sondern schlichtweg über die Frage, ob am Ende der Tage ein menschenwürdiges Leben bleibt oder nicht.