Alle Eltern rechnen

Vor allem ärmere Familien werden zum so genannten Systemwechsel gezwungen. Wohlhabendere können weitermachen wie bisher. Drei Beispiele

VON HEIDE OESTREICH

„Jetzt werden die Karten neu gemischt“, Miriams Blick in Richtung Martin ist zugleich siegesgewiss und aufmunternd. Seit Monaten überlegt das Hamburger Paar, ob und wie es wohl mit einem Kind zurechtkäme. Martin hat sich bisher nicht vorstellen können, aus dem Job auszusteigen: „Wir können von deinem Mini-Gehalt nicht leben“, war sein Standardargument. Sie aber wollte nicht so lange aussetzen, „Karrierekiller Kind“, da wollte sie nicht mitmachen. So saßen sie und zweifelten an ihrer Kindertauglichkeit. Nun wähnt sich Miriam im Aufwind: „Du bekämst 1.800 Euro Elterngeld“, rechnet sie ihm vor. Ich dagegen nur 800 Euro. Klar, dass du nun aussteigen kannst.“ Martin findet das gar nicht, schließlich ist er nur Honorarkraft in seinem Betrieb. „In meiner Abteilung wäre ich der Erste, der so was probiert“, zögert er. Ob er hinterher weiterbeschäftigt würde, steht in den Sternen.

Das Elterngeld. Ein „Systemwechsel in der Familienpolitik“, wie die Bundesregierung betont, wird heute in einer großen Anhörung im Bundestag noch einmal durchgeprüft. 67 Prozent Lohnersatz für Väter und Mütter, die im ersten Jahr zu Hause bleiben. Steigt der Partner ebenfalls zwei Monate aus, wird sein Lohn sogar noch zwei Monate länger ersetzt. Nicht nur Miriam und Martin haben angefangen zu rechnen. Viele rechnen. Manche mit Vergnügen, wie Miriam, manche bang, wie Martin. Denn der „Systemwechsel“ läuft lange nicht so glatt, wie die Politik suggeriert. Es wird eher ein neues Element in ein altes System implantiert. Nicht nur Martin graut vor der Reaktion seines Chefs.

Die Verbindung eines aufgeschlossenen Chefs mit einem aufgeschlossenen Vater ist selten, eine gesellschaftliche Avantgarde. Per aus Berlin ist so ein innovativer Fall. In seinem wissenschaftlichen Institut sind Elternzeitler schon ein bekanntes Phänomen, er hätte sich einen zeitweisen Ausstieg gut vorstellen können. Für ihn und seine Frau Angelika kommt der Systemwechsel nur zu spät. Ihr Sohn Mirko ist nämlich schon auf der Welt. Und „es war die Hölle“, beschreibt Per die Situation. Die beiden Wissenschaftler waren derart klamm, dass keiner länger aussteigen wollte. Sie verdienten aber knapp zu viel, um Erziehungsgeld zu bekommen. Und Angelika hatte höllisch Angst, den Anschluss im Job zu verlieren. Nach zwei Monaten fing sie wieder an – und damit begann ein Martyrium. Mirko war oft krank, Angelika fing an, Projekte zu verschieben, was wiederum ihre Angst schürte, abgehängt zu werden. „Wir haben mindestens einmal die Woche einen Nervenzusammenbruch zu verarbeiten.“

Mit dem Elterngeld wäre es anders gelaufen, da sind sich beide sicher. „Ich wäre mindestens ein halbes Jahr ausgestiegen“, sagt Per, „mir fällt es leichter als Angelika, und es hätte mir Spaß gemacht.“ Einige Ehekrisen hätten vermieden werden können, meint Per.

Ja, das Elterngeld kann einen Unterschied machen. Aber für nicht wenige Menschen ragt es zunächst schräg in ihre bisherige Lebensplanung hinein. Bisher lautete die gängige Mütterdoktrin, dass Mama zwei Jahre zu Hause bleibt und dann allenfalls behutsam wieder in den Beruf einsteigt. Und so kommt es zu der Merkwürdigkeit, dass berufstätige, reiche Mütter nun den große Batzen Elterngeld locker über zwei Jahre strecken und damit das alte System mit neuem Reichtum weiterleben können, während ärmeren Frauen der Systemwechsel durch abrupten Geldentzug nach einem Jahr geradezu aufgedrängt wird.

Die allein erziehende Bankkauffrau Verena aus Köln etwa war nach ihrer Ausbildung arbeitslos und bekam dann ihre Tochter Renée. „Von Erziehungsgeld und Hartz IV kann ich zwei Jahre lang einigermaßen leben“, erklärt sie. „Für mich wäre das Elterngeld schlecht“. Dann wäre nämlich jetzt, nach einem Jahr, Schluss mit den monatlichen 300 Euro. Ihre einjährige Tochter aber findet sie „viel zu klein, um sie den ganzen Tag in eine Krippe zu geben“. Dass der Staat „mich zwingen würde, das Kind wegzugeben, das ist eine Zumutung“, findet sie. „Und in die Kinderkrippen, die ich hier kenne, würde ich mein Kind nicht gerne geben“, schiebt Verena nach.

Weil mit dem Elterngeld plötzlich nicht mehr finanziert wird, was zuvor ganz normal war, tun sich immer wieder solche Lücken auf, wie Verena sie beschreibt: Die Kinderbetreuung ist nicht da oder nicht gut. Es gibt die Arbeitsplätze für die Mütter nicht, auf die sie so dringend zurückkehren sollen. Der „Systemwechsel“ macht sich vor allem durch ein ganz gehöriges Knirschen bemerkbar, wenn das neue System weitgehend unter den Bedingungen des alten funktionieren soll.