leitkultur, angst etc.
: Das Recht auf das Wort „Negerkuss“

Als großer Denker war er ja bisher nicht bekannt, Christian Thielemann, Generalmusikdirektor der Münchner Philharmoniker und Dirigent des diesjährigen „Ring der Nibelungen“ in Bayreuth. Eher als so eine Art nationalkonservativer Duracell-Hase für Hochkulturbelange: Gerne und ausführlich rührt Thielemann die Trommel für den „deutschen Klang“. Ein Urteil, das es zu revidieren gilt. Denn auch wenn er in seinem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit fast eine ganze Seite lang über Richard Wagner deliriert, gelingt ihm doch ein Kunststück, an dem bisher noch jeder gescheitert ist: In wenigen Zeilen umreißt Thielemann, worum es in der Debatte um die deutsche Leitkultur wirklich geht.

Es lohnt sich, die Stelle im Wortlaut zu zitieren. Thielemann wird nach dem „deutschen Klang“ gefragt, und nachdem er vorgesungen hat, wie man sich den vorzustellen hat, sagt er: „Eine Tradition besitze ich nämlich nicht, die muss ich mir – mit Goethe – erwerben. Genau dieses Nachdenken aber hat 68 abgeschnitten. Es ist doch idiotisch, dass als ausländerfeindlich gilt, wer Negerkuss sagt! Also mich freut dieses Aufgerütteltwerden genauso, wie mich die Fußball-WM freut: Endlich sind wir mal ein bisschen unverkrampfter.“

Also: Vom Tatatataaa geht es über Goethe direkt zu den 68ern, die ihm den „Negerkuss“ verbieten wollen. Mit der deutschen Klassik auf das Recht zu bestehen, „Negerkuss“ sagen zu dürfen. Prägnanter hat das noch niemand zusammengefasst.

Vor allem, weil Thielemann so deutlich wie niemand vor ihm umreißt, dass der Gefühlskern der Leitkulturdebatte in der panischen Angst vor und der kompromisslosen Ablehnung von political correctness liegt. Ob Wolfgang Schäuble oder Matthias Mattusek – nein, man hat nichts gegen Frauen oder Ausländer. Doch die Definitionsmacht darüber, was Kultur ist oder welches Wort welchen Sachverhalt bezeichnet, sollen sie nicht bekommen. Mitreden? Ja, wenn es denn unbedingt sein muss. Mitbestimmen, wie und worüber geredet wird? Nein, auf keinen Fall.

Davon handelt die Leitkulturdebatte – allem Herumgeeiere zum Trotz, es gehe nur um ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache und die Achtung vor dem Grundgesetz. Von der Angst weißer deutscher Männer vor dem Verlust ihrer kulturellen Hegemonie: von Goethe bis zum „Negerkuss“.

Thielemann hat es ausgesprochen. Für die Deutlichkeit kann man ihm dankbar sein.

TOBIAS RAPP