Die Welt, aus elf Metern betrachtet

Portugals Fußballer stehen im Halbfinale und sind nun – trotz einer sehr menschlichen Leistung – unsterblich geworden

GELSENKIRCHEN taz ■ Aus elf Metern betrachtet sieht die Welt und also auch Ricardo anders aus. Von der Tribüne des Stadions aus wirkt er in seinem kurzärmligen Torwartdress, mit seinen hektischen Bewegungen schmächtig und verwundbar. Er ist kein besonders guter Torwart. Aber aus elf Metern betrachtet wird Ricardo zum unbarmherzigen Türsteher zum Glück, der niemanden durchlässt.

Aber als er am Samstagabend in Gelsenkirchen nach Portugals 3:1-Viertelfinalsieg im Elfmeterschießen über England aus der Umkleidekabine kam, hatt sich das Heldenepos bereits verselbständigt. „Er hat heute gezeigt, dass er einer der besten Torhüter der Welt ist“, behauptete Portugals Verteidiger Fernando Meira, der beim VfB Stuttgart angestellt ist, und vielleicht glaubte er das sogar tatsächlich. Ricardo, 30 Jahre alt, der bei Sporting Lissabon umstritten ist wegen seiner Wankelmütigkeit, der vergangene Saison wegwollte, aber nur Absagen von Spitzenklubs bekam, hat es wieder getan. Zwei Jahre nachdem er sich die Torwarthandschuhe auszog und Portugal den Sieg im Viertelfinale der EM 2004 über die Engländer brachte, indem er den Elfmeter von Darius Vassell mit bloßen Händen abwehrte, parierte er in Gelsenkirchen gleich drei englische Strafstöße. Die Handschuhe ließ er diesmal an. „Ich warf sie damals in Lissabon nur weg, weil ich beim sechsten Strafstoß irgendetwas ändern musste, um den Lauf der Dinge zu durchbrechen. Diesmal lief vom ersten Schuss an alles bestens.“

Geschichte wird oft auf sehr profane Art gemacht. Das Ergebnis ist spektakulär, der Weg öde. Portugal steht zum zweiten Mal nach 1966 im Halbfinale einer WM, doch schon lange bevor das 0:0 gegen England in die Verlängerung ging, hatte sich ahnen lassen, dass in dieser Partie allenfalls noch der Torwart würde triumphieren können. Portugal spielte auch in Überzahl wie angezählt. Die Mannschaftsteile waren weit auseinander gezogen, ohne Bindung zueinander, die Fehlerquote bei den Pässen war so verstörend wie die Ideenlosigkeit. Es war die niemals endende Widersprüchlichkeit des Fußballs, dass dieses Portugal sich mit einer sehr menschlichen Leistung „unsterblich“ machte, wie das Sportblatt A Bola gestern vom Titel schrie.

Aber Portugal gehört in dieses Halbfinale. Sie waren seit dem verlorenen EM-Endspiel 2004 gegen Griechenland neben Italien Europas konstanteste Nationalelf. Obwohl wichtige Spieler wie Maniche, Costinha oder Figo im Vereinsfußball nicht die große Form fanden. Doch Portugal ist ein gutes Beispiel, was entstehen kann, wenn der wichtigste Spieler der Trainer ist.

Luiz Felipe Scolari, mit seinem Heimatland Brasilien 2002 Weltmeister, hat der Elf eine klare defensive Struktur gegeben, mit dem überragenden Ricardo Carvalho vom FC Chelsea als Emblem. Selten greifen bei Portugal mehr als fünf Spieler an, sie wollen keine Überraschungen in der Abwehr erleben, dank des ballsicheren Passspiels sind sie trotzdem meist in der Offensive. Man erkennt die Mannschaften, in denen der Trainer wirklich regiert: Sie bewegen sich systematisch.

Trotzdem fällt es schwer, sich vorzustellen, wie Portugal, das so verausgabt wirkte, am Mittwoch im Halbfinale in München gegen Frankreich bestehen könnte. Doch in einer Elf, in der die schwächsten Mitglieder Spiele gewinnen, sind die Ressourcen wohl grenzenlos. Im Stadion lachte Torwart Ricardo noch immer. „Ich mag die Engländer“, sagte er, „aber noch mehr mag ich Portugal.“ Aus einem Meter betrachtet, sah die Welt und also auch der portugiesische Torwart nun aus wie ein sympathisches, glückliches Rätsel. RONALD RENG