„Diskutieren wir lieber die Klassenfrage“

taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 4): Inzwischen gilt es schon als schick, prekarisiert zu leben, sagt Christiane Rösinger, Sängerin von Britta. Die Band singt über die schwierigen Lebensverhältnisse von Künstlern – und verarbeitet auch eigene Erfahrungen

INTERVIEW NINA APIN

taz: Frau Rösinger, was bedeutet Prekarisierung für Sie?

Christiane Rösinger: Zum ersten Mal habe ich den Begriff bei René Pollesch gehört, bei der „Falsches-Leben-Show“ im Prater-Theater in der Kastanienallee. Dort ging es um unsichere Arbeits- und Lebensverhältnisse. Dieses Schlagwort Prekarisierung fand ich anfangs toll.

Warum?

Ich dachte: Das beschreibt genau meine Situation, und ich bin nicht allein damit. Unter Musikern war die Unsicherheit von Lebensverhältnissen ja nie ein Thema: Niemand redete offen darüber, wovon er eigentlich lebt. Dadurch hatte man immer das Gefühl, die einzige zu sein, die es nicht hinkriegt. Dass plötzlich öffentlich diskutiert wird, wie viele Kreative sich besonders in Berlin genauso durchwursteln, fand ich befreiend. Ich merkte: Den anderen geht es genauso. Aber die öffentliche Diskussion drehte sich schnell um, es war von einer neuen Klasse „urbaner Penner“ die Rede.

Jammern jetzt alle nur noch, wie schlecht es ihnen geht?

Inzwischen ist es schick geworden, prekarisiert zu leben. Alle wollen dazugehören und erzählen, wie demütigend es ist, von den Eltern unterstützt zu werden oder dass sie demnächst ihr Wochenendhaus in Österreich verkaufen müssen.

Das klingt, als würden die am lautesten schreien, die eigentlich gar nicht gemeint waren.

Ja. Es fand plötzlich so eine Art Prekarisierungswettbewerb statt. Keiner will der Buhmann sein, dem es gut geht. Lauter arme Millionäre, wo man hinschaut. Daher finde ich mittlerweile, dass der Prekarisierungsbegriff zu weit gefasst ist. Er taugt nicht für die Beschreibung so vieler verschiedener Lebensentwürfe. Lieber sollte man mal wieder über Klassenfragen diskutieren.

Aber gibt es überhaupt noch privilegierte Klassen? Schließlich sind auch Akademiker und gut Ausgebildete inzwischen oft jahrelang arbeitslos.

Es gibt natürlich einen Wandel der Arbeitswelt von festen Stellen hin zur so genannten Eigenverantwortung. Und das so genannte kreative Lumpenproletariat, das schon seit Jahrzehnten so lebt, hat dieser Gesellschaft vielleicht vorgemacht, dass es so auch geht. Ich als Musikerin habe immer mit dieser Unsicherheit gelebt.

Auf der neuen Britta-Platte „Das schöne Leben“ stellt Ihre Band die Frage: „Ist das noch Boheme oder schon die neue Unterschicht?“ Wo verläuft denn die Grenze zur Armut?

Solange man sich den Latte Macchiato noch leisten kann und abends den Sekt auf Eis, kann man nicht von wirklicher Armut sprechen. Doch durch die Finanzknappheit verschieben sich allmählich Grenzen, auch von persönlichen Beziehungen: Man fährt nicht mehr in Urlaub, man trennt sich von Freunden, die wesentlich mehr Geld haben. Eigentlich können auch Beziehungen zwischen Armen und Reichen nicht funktionieren.

Das klingt jetzt aber schwer nach Klassenkampf.

Wenn Akademiker und Kinder aus Mittelschichtsfamilien den Lebensstil ihrer Eltern nicht mehr erreichen können, ist das ein Mittelschichtsproblem. Das ist nicht vergleichbar mit einer Hartz-IV-Familie, die kein Geld hat für Schulausflüge der Kinder. Die „Generation Praktikum“ wird irgendwann ihren Platz in der Gesellschaft finden. Schon durch ihre Bildung stehen ihnen viel mehr Chancen offen als einer Textilarbeiterin.

Für den Hochschulabsolventen ohne Job ist es aber doch genauso schlimm, arm zu sein?

Es lohnt sich wirklich, einmal ganz genau nachzufragen, wovon die Leute wirklich leben. Die einen haben heimliches Kapital im Hintergrund: Unterstützung der Eltern, die verkaufte Eigentumswohnung, ein Bausparvertrag. Und die anderen bekommen Hartz IV oder gehen nebenher putzen. Beide verschweigen es: aus Scham.

Auf der neuen Platte heißt es dazu: „Wer lebt prima und wer eher prekär? Wer geht putzen und wer wird Millionär?“ Hat das prekarisierte Leben nicht auch seine Vorteile?

Aber sicher. Als Musikerin, Labelbetreiberin und freie Journalistin bin ich frei von Bürozeiten und vielen Alltagszwängen. Das ist natürlich eine bewusst gewählte Lebensform, die ich immer noch als Privileg sehe. Man muss nur die Lässigkeit haben, gelegentliche Zwischenjobs als Grundsicherung für das freie Leben zu sehen.

Wann wird die Freiheit zur Last?

Das ist vor allem eine Frage der Gesundheit. Wenn ich nie Geld hatte, um für Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit vorzusorgen, bin ich im Ernstfall auch nicht abgesichert. Im Alter wächst das Risiko einer Krankheit, gleichzeitig werden die Verdienstmöglichkeiten eingeschränkter. Dann wird man allmählich endgültig zu alt für eine reguläre Arbeitsstelle. Und nicht jeder Nebenjob geht mehr – gesundheitlich, aber auch imagemäßig: Wenn du mit 50 in einem Café am Tresen stehst und Studenten bedienen musst, wird es irgendwann sehr traurig.

Das Ziel ist aber doch immer, von der eigentlichen Arbeit, also der Musik, zu leben?

Natürlich. Aber das gelingt gerade in der Musikbranche nur wenigen. Es wäre schön, wenn es auch für Kreative eine Art staatliche Grundsicherung gäbe: In Frankreich bekommen Bands einen Zuschuss, wenn sie eine Platte in einem französischen Studio aufnehmen – unabhängig vom späteren Verkaufserfolg.

Staatlich bezuschusste Musiker – das klingt wie Gewerkschaftspunk. Gehören die Freiheit, die Unsicherheit, sogar die Armut nicht irgendwie zur Musik?

Dass dicke Verträge einer Band nicht immer gut tun, sieht man an gewissen Jungmännerkombos, die aus Mangel an echter Lebenserfahrung über belanglose Probleme singen. Aber Armut macht auch keine gute Band: Man kann ja auch mal über das Unglück anderer Leute singen.

„Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“ – umschreibt dieser Poesiealbum-Spruch das prekäre Lebensgefühl?

Ja. Das Zitat verwenden wir nicht von ungefähr auf unserer neuen Platte. Irgendwas geht immer, könnte man auch sagen.