Die SPD steht Kopf

Die Gesundheitsreform verbittert viele Sozis. Zur Ablenkung gehen sie auf Merkel los

VON LUKAS WALLRAFF
UND ULRIKE WINKELMANN

Es soll Menschen geben, die der Gesundheitskompromiss der Regierung mehr geschockt hat als die zeitgleich verkündete Sperre von Nationalspieler Torsten Frings im Halbfinale gegen Italien. Diesen Menschen musste die SPD gestern erklären, warum sie in der Nacht zum Montag weniger erreichte als erhofft. Und siehe da: Die sozialdemokratische Führung hat einen Dreh gefunden, wie sie ihre innerkoalitionäre Niederlage bei der Gesundheitsreform verkraftet – und verkauft: Angela Merkel ist schuld. Die Bundeskanzlerin hat erst gesagt, sie sei für mehr Steuerfinanzierung der Gesundheit, und dann ist sie umgekippt.

So und ähnlich äußerten sich gestern SPD-Größen und -Abgeordnete rings um die Sitzungen im Bundestag, auf denen über die Eckpunkte zur Gesundheitsreform gesprochen, aber nicht abgestimmt wurde. Fraktionschef Peter Struck erklärte, Merkel habe sich nicht an die Vereinbarung über eine höhere Steuerfinanzierung der Gesundheit gehalten. „Offenbar musste sie dem Druck der Ministerpräsidenten nachgeben“, sagte Struck in Anspielung auf das Veto gegen jegliche Steuererhöhungen für die Gesundheit, das Bayern-Chef Edmund Stoiber (CSU) und Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) kurz vor der entscheidenden Verhandlungsrunde eingelegt hatten. Vor Strucks Salve gegen Merkel hatte die Wortführerin der SPD-Linken im Parteipräsidium, Andrea Nahles, der Regierungschefin sogar „Wortbruch“ vorgeworfen.

Auch Nina Hauer vom flügeltechnisch mittigen SPD-„Netzwerk“ stichelte gegen die Kanzlerin: Merkel sei gegenüber den Länderchefs „eingeknickt“. Diese „Form von Führungsschwäche“ sei die SPD „so in den vergangenen Jahren nicht gewöhnt“ gewesen. Und weil die Beiträge steigen müssen, wenn Steuern nicht fließen, sagte Hauer auch über die Erhöhung der Kassenbeiträge zum 1. Januar 2007: „Das haben wir der CDU zu verdanken.“ SPD-Generalsekretär Hubertus Heil wollte nicht Merkel direkt, gern aber die Unions-Länderfürsten kritisieren. In der Tat habe es von Seiten der Union zuerst Signale Richtung Steuererhöhungen gegeben, aber „am Ende war die Bereitschaft nicht da“, so Heil. Dass Merkel sich parteiintern nicht durchsetzen konnte, bestätigten – hinter den Kulissen – auch führende Unionskreise. Zum Thema Steuererhöhungen für die Gesundheit sagte ein Anhänger Merkels der taz: „Das wollten die Ministerpräsidenten nicht.“

Was die Merkel-Kritiker in der SPD aber geflissentlich verschwiegen, ist ein anderer wichtiger Grund für den akuten Geldmangel der Krankenkassen: Gleich zu Beginn der schwarz-roten Regierungszeit hatte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) Milliardenzuschüsse aus der Tabaksteuer gestrichen.

Die Attacken gegen Merkel dienen also auch als Ablenkungsmanöver, um die Kritik an dem Reformwerk zu überdecken. In der Nacht zum Montag hatten sich die Spitzen der großen Koalition darauf geeinigt, dass ab 2008 die Kassenbeiträge über einen „Gesundheitsfonds“ an die Kassen verteilt werden sollen. Steigende Gesundheitskosten sollen dann zunächst von den Versicherten mit einem Zusatzbeitrag oder einer kleinen Kopfpauschale abgefangen werden. Zur Deckung des Milliardendefizits bei den gesetzlichen Kassen sollen aber 2007 zunächst die Beiträge um 0,5 Prozentpunkte steigen. 2008 sollen 1,5 Milliarden Euro, 2009 dann 3 Milliarden Euro Steuern in den Fonds fließen. Damit soll die Kinderversicherung teilfinanziert werden. Laut Koalitionseinigung können aber auch steigende Gesundheitskosten über Steuermittel abgefangen werden – freilich „ohne Steuererhöhung in dieser Legislaturperiode“, wie die Merkel-Regierung ausdrücklich versprach. Diese Festlegung bereitet auch manchem CDU-Strategen Sorge: „schwer einzuhalten“, unkte ein Regierungsmitglied gegenüber der taz.

Die ansonsten vergleichsweise gelassenen Reaktionen aus der Union erklären sich vor allem mit der Zufriedenheit darüber, dass über den Fonds die Arbeitgeberbeiträge fürs Erste eingefroren sind. In der Unions-Fraktionssitzung organisierte lediglich JU-Chef Philipp Mißfelder einen kleinen Jugendprotest gegen das Ausbleiben einer Kapitaldeckung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Jungunionisten glauben, wenn die Krankenkassen so wie die Privatversicherungen für jeden Versicherten Geld ansparten, erhöhe dies die „Generationengerechtigkeit“. Doch dieser Mini-Aufstand wurde von den Granden eher wohlwollend bedacht. Fraktionsvize Wolfgang Zöller (CSU) erklärte, er habe „Verständnis für die Jugend“. Leider sei für deren Anliegen aber im Moment kein finanzieller Spielraum da. Grundsätzlich sei es „sozial gerechter, moderate Beitragserhöhungen zu machen“, als medizinische Leistungen zu streichen.

Das Ergebnis Beitragserhöhung statt Leistungskürzungen blieb gestern auch ein Hauptargument der SPD-Vorderen gegen Kritik aus den eigenen Reihen. Erneut wehrte sich SPD-Chef Kurt Beck gegen den Vorwurf, er habe schlecht verhandelt. Anders als tags zuvor im Parteivorstand drohte Beck aber vor der Fraktion nicht mit seinem Rücktritt.

Bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel und Stoiber erklärte Beck den Fonds zu einer „Chance“, mit der „zusätzliche solidarische Elemente“ verwirklicht werden könnten. Merkel betonte, dass die Fraktionen der Regierung ein „eindeutiges Plazet“ gegeben hätten, die Eckpunkte im Herbst in Gesetzesform zu gießen. Zu den Vorhaltungen des Wortbruchs aus der SPD sagte sie, das Koalitionsklima sei überhaupt nicht gestört. Sie sei „verschiedenste Meinungsäußerungen selbst aus meinen eigenen Truppenteilen mittlerweile gewöhnt“ und schon eine Weile im politischen Geschäft dabei. „Da wird man nicht unsensibler“, erklärte Merkel – und meinte wohl das Gegenteil.