Geisel der eigenen Politik

Die jüngste Eskalation im Gaza-Streifen ist das Ergebnis einer systematischen Strategie: Israel will die Palästinenser weiter beherrschen und jeden Widerstand zermürben

Kritik an der israelischen Politik wird routiniert mit dem Antisemitismus-Vorwurf abgetan

Auf den Fotos ist ein freundlicher junger Mann mit Brille zu sehen; manchmal gibt es sogar Kinderbilder von Gilad Schalit, dem entführten israelischen Soldaten. Wie kann man diesen harmlosen Kerl nur entführen, scheinen die Bilder zu fragen. Aber es ist ja kein Wunder, denn in Gaza regieren die skrupellosen Fundamentalisten von der Hamas. Welch ein Schock, als die vor einem halben Jahr gewählt wurden! Und so zeigt man in der hiesigen Presse durchaus Verständnis für die Aktionen der israelischen Armee, die derzeit den Gaza-Streifen bombardiert und zeitweise von Strom, Wasser und Lebensmitteln abschneidet.

Diese Maßnahmen sind allerdings keineswegs nur eine Reaktion auf die Entführung des Soldaten, sondern Teil einer systematischen Strategie zur Zermürbung jedes palästinensischen Widerstands. Diese Strategie existierte schon vor der zweiten Intifada, wie man in Dutzenden Berichten von israelischen Menschenrechtsgruppen wie Physicians for Human Rights, Peace Now oder Israelis against House Demolitions nachlesen kann. Der Architekt Eyal Weizmann hat diese Strategie einmal als „zivile Besatzung“ beschrieben: Es ist eine Kombination aus der Verwandlung des Gaza-Streifens in ein „autonomes“ Großgefängnis, der konsequenten Besiedlung des Westjordanlandes und Ostjerusalems sowie der gleichzeitigen Zerstörung jedes berechenbaren Alltagslebens bei den Palästinensern.

In Gaza war die Situation schon Ende 2004 desolat, wie sich bei einem Besuch dort zeigte. Gerade hatte die israelische Armee eine ihrer berüchtigten Interventionen unternommen. Jede Provokationen durch militante Gruppen war ein willkommener Anlass, um ganze Wohnblöcke niederzuwalzen und so die Zivilbevölkerung zu bestrafen. Über 100 Tote hatte es gegeben, weitgehend unbeachtet von den hiesigen Medien. Die anstehende Räumung der israelischen Siedlungen wurde damals in Gaza von niemandem begrüßt: Sie erschien als Bestandteil der kompletten Abriegelung Gazas unter der Kontrolle der israelischen Armee. Diese Abriegelung konnte jeder Journalist vor allem bei der Ausreise aus Gaza körperlich erfahren. Angestrahlt vom Flutlicht stand man nach einem Marsch durch einen dunklen Tunnel mit erhobenen Händen vor den Gewehrläufen der blutjungen israelischen Soldaten. Dann ging es hinein in eine Schleuse, in der man wie in einem Käfig eingesperrt blieb, bis die Papiere überprüft waren – zusammen mit den Repräsentanten der palästinensischen Autonomiebehörde, die dieses schikanöse Ritual jedes Mal über sich ergehen lassen mussten, wenn sie von Gaza aus nach Ramallah zurückwollten.

Dass die Hamas die Wahl gewinnen würde, das war damals für jeden in Gaza vorhersehbar. Hamas ist bekanntlich mehr eine Bewegung als eine Partei. An Hamas konnte man sich wenden, wenn man Unterstützung brauchte, wenn das Geld nicht mehr reichte, um die Familie durchzubringen, oder wenn man Rache wollte für das, was die israelische Armee einem antat.

Schon vor der zweiten Intifada hatte die israelische Armee damit begonnen, das Alltagsleben in den besetzten Gebieten systematisch zu zerstören und so die von der Fatah dominierte Autonomiebehörde als zu nachgiebig zu diskreditieren – durch willkürlich aufgestellte Checkpoints überall im Land, die für stundenlange Wartezeiten sorgten. Gleichzeitig wurden die Siedlungen durch Highways mit dem israelischen Kernland verbunden. Diese Straßen wirken für die Palästinenser wie Mobilitätssperren, denn für diese Straßen brauchen sie Genehmigungen. Die bekommt man aber nur an bestimmten Ausgabestellen, die schlecht erreichbar und chronisch unterbesetzt sind. Die Bürokratie wird hier bewusst kafkaesk; das Ziel ist psychische Zermürbung.

An den Checkpoints werden von der israelischen Armee oft Rekruten eingesetzt. Die benehmen sich dort, wie sich vor allem junge Männer mit zu viel Macht eben benehmen: wahlweise nervös und ängstlich oder großspurig und ekelhaft. Insofern ist die entführte Person nicht nur ein unschuldiges Opfer. Kurz zuvor hatte die Hamas-Regierung bekanntlich über die Anerkennung Israels nachgedacht. Zweifellos ist diese Entführung eine Reaktion der Militanten auf die Ankündigung von Konzessionen. Von israelischer Seite aber wird stets die palästinensische Regierung für solche Aktionen verantwortlich gemacht und inzwischen ja sogar in Haft genommen. Das bestätigt den Militanten wiederum den Erfolg ihrer Aktion und hält den Teufelskreis der Gewalt in Bewegung.

Tatsächlich hatte die israelische Regierung an einer Anerkennung durch die Hamas gar kein Interesse. Schließlich ist es in den letzten Jahren gelungen, jeglichen Widerstand der Palästinenser als unbegreiflich und fundamentalistisch dastehen zu lassen. Dazu haben palästinensische „Kämpfer“ mit ihren grauenhaften Selbstmordattentaten zweifellos beigetragen. Solche Anschläge erscheinen den gewöhnlichen Israelis auch deswegen so barbarisch, weil sie nichts von den Zuständen in den Autonomiegebieten wissen – und das, obwohl sie teilweise in den schicken und preiswerten neuen Appartements in den Siedlungen im Westjordanland leben. Mit dem Amtsantritt von Ariel Scharon hat die israelische Regierung bewusst die Voraussetzungen für Frieden und Sicherheit zerstört und es gleichzeitig geschafft, diese Politik als alternativlosen Garanten der Stabilität zu präsentieren. Aber selbst im Fall der jetzigen Entführung sind immer noch 58 Prozent der Israelis für eine Verhandlungslösung. Die meisten Israelis sind nichts rechts, sondern ratlos. Die derzeitige Politik zermürbt nicht nur die Palästinenser, sondern auch die Israelis. Während die Regierung in den Siedlungsbau investiert, um das Westjordanland „zivil“ zu erobern, verarmen große Teile der israelischen Bevölkerung. Viele junge Leute wollen das Land verlassen.

Gegen internationale Kritik gehen die israelische Regierung und vor allem deren Lobby-Organisationen in den USA erfolgreich mit dem Vorwurf des Antisemitismus vor. In Cicero verstieg sich kürzlich der US-amerikanische Filmproduzent Arthur Cohn zu der These, dass schon der Begriff „besetzte Gebiete“ antisemitisch sei: „Besatzung“, das klinge stark nach der deutschen Invasion während des Zweiten Weltkrieges, und die Rede von der illegalen Besatzung spiele denen in die Hände, die jene Gebiete „judenrein“ haben und den jüdischen Staat von der Landkarte wischen wollten.

Auf jede Provokation von palästinensischer Seite reagiert Israel, indem es die Zivil-bevölkerung bestraft

Inzwischen gerät schon in den Verdacht des Antisemitismus, wer feststellt, dass es in den USA starke Lobbyorganisationen für Israel gibt, obwohl es solche Lobbys dort für jeden anderen Staat der Welt auch gibt. Kritik an der israelischen Politik bedeutet jedoch nicht, das Existenzrecht des Staates Israel in Frage zu stellen. Eine solche Kritik bedeutet auch nicht, palästinensische Fundamentalisten zu unterstützen. Aber wer Menschenrechtsverletzungen in Israel anprangert, auch als Deutscher, ist noch lange kein Antisemit.

MARK TERKESSIDIS