Behörden heizen Joblosen ein

Kampagne gegen Zwangsumzüge kritisiert Hartz-IV-Behörden: Immer mehr Langzeitarbeitslose hätten Angst, ihre Wohnung zu verlieren, weil diese zu teuer sei. Sozialverwaltung dementiert

von RICHARD ROTHER

Die Kampagne gegen Zwangsumzüge schlägt Alarm. Immer häufiger würden die Behörden die Bezieher von Arbeitslosengeld II auffordern, ihre Kosten für Unterkunft und Heizung zu senken – im „Schatten der Fußball-WM“, kritisierte die Kampagne gestern. Auch die „Behördenwillkür“ und die „Schikane der Betroffenen“ nähmen weiter zu. Zu diesem Schluss komme man nach der Auswertung eines Notruftelefons der Kampagne, das seit Mitte März geschaltet ist.

Weil nach Hartz IV die Kommunen einen Teil der Wohnkosten von Langzeitarbeitslosen übernehmen, hatte der rot-rote Senat eine Vorschrift erlassen, welche Wohnungen für Betroffene angemessen seien. Einziges Kriterium dabei: das Geld. Ein Ein-Personen-Haushalt darf demnach nicht mehr als 360 Euro fürs Wohnen ausgeben.

In den vergangenen zweieinhalb Monaten habe die Kampagne rund 750 Anrufe registriert, davon wurden rund 130 Gespräche protokolliert. Die Hälfte der Anrufer habe eine Aufforderung zur Senkung der Wohnkosten erhalten, sagte Anne Allex, die die Anrufe ausgewertet hat. 27 Schreiben seien rechtswidrig gewesen, weil Kranke, Behinderte oder alleinerziehende Frauen aufgefordert worden seien. Genaue Zahlen über die tatsächliche Höhe von vollzogenen oder angedrohten Zwangsumzügen kann die Kampagne jedoch nicht nennen.

Umzugsängste registriert auch die Telefonseelsorge. 700 Menschen suchten täglich Kontakt zu dieser Beratungseinrichtung, aber nur etwa 70 Gespräche können entgegengenommen werden, so Jürgen Hesse von der Seelsorge. Zehn Prozent aller Anrufer hätte soziale Probleme, die wichtigsten darunter seien Geldsorgen oder die Angst vor dem Verlust der Wohnung.

Das Thema Zwangsumzüge sei „kein riesiges Problem“, sagte hingegen Roswitha Steinbrenner, Sprecherin von Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linkspartei). Dafür sprächen die Zahlen: Nur 55 so genannte Bedarfsgemeinschaften seien bislang umgezogen, 386 Bedarfsgemeinschaften hätten andere Maßnahmen ergriffen, um ihre Wohnkosten zu senken. Angesichts von 200.000 überprüften Hartz-Bedarfsgemeinschaften sei dies eine sehr geringe Zahl. Von diesen Haushalten lägen rund 10.000 mit ihren Wohnkosten über den Richtwerten; sie seien angeschrieben worden. Die Hälfte davon könne sich auf die Härtefallregelung berufen. Wer nachweisen könne, dass er keinen günstigeren Wohnraum finde, müsse nicht ausziehen, so Steinbrenner.

Die Kampagne bezweifelt jedoch, dass es ausreichend Wohnraum im unteren Preissegment gebe. „Was mir angeboten wurde, waren nur Bruchbuden“, berichtete gestern eine Betroffene. Eine andere: „Für mich und mein Kind habe ich nur eine sehr kleine Wohnung in einem unsanierten Plattenbau gefunden.“ Um Zwangsumzüge zu vermeiden, fordert die Kampagne den Senat auf, die Mietobergrenzen sofort um 20 Prozent zu erhöhen. Der Bund solle künftig die Kosten der Unterkunft übernehmen.

Das Notruftelefon der Kampagne gegen Zwangsumzüge ist unter (08 00) 2 72 72 78 zu erreichen