„Zidane ist der Idealfranzose“

taz: Herr Cohn-Bendit, die Jugendlichen in den Banlieues fackeln nicht mehr Autos ab, sondern singen die Marseillaise. Was ist passiert?

Daniel Cohn-Bendit: Diese multikulturelle Identifikation mit dem Nationalteam ist immer noch stark. Ich habe in Straßburg sogar Jugendliche mit der algerischen Fahne gesehen, die die Marseillaise gesungen haben – das ist das Nonplusultra.

Sorgt die Nationalmannschaft für eine Ruhephase bei der Austragung gesellschaftlicher Verwerfungen?

Natürlich gibt es soziale Spannungen und Fehler in der Einwanderungspolitik. Gleichzeitig ist dieses Team multikulturell. Die Jugendlichen haben jetzt drei Möglichkeiten der Identifikation: Zidane – Maghrebiner. Thuram – schwarz, Antillen. Ribéry – weiß, Nordfrankreich, aus proletarischer Familie. Das ist die ideale Gesamtidentität.

Was ist denn der Unterschied zwischen dem Wir-Gefühl eines Deutschtürken aus Berlin und einem Algerier aus Paris.

Die Maghrebiner oder die Schwarzen identifizieren sich mit einer Mannschaft, die auch aussieht wie Frankreich. Das deutsche Team dagegen sieht nach Jahrzehnten der Einwanderung immer noch nicht aus wie die deutsche Gesellschaft. Die französischen Jugendlichen zeigen in einem mythischen Moment wie einer WM: Sie wollen anerkannt werden, sie wollen eine Chance haben. Seht her, wir sind auch Frankreich!

Und das wird vom Nationalteam auch vorgelebt. Ist Frankreich damit die politischste Mannschaft dieses Turniers?

Nicht explizit politisch. Die Spieler haben aber ein Bewusstsein, dass sie von unten, aus den Banlieues kommen, dass es ein Kampf ist, in dieser Gesellschaft anerkannt zu werden. Lilian Thuram hat Stellung bezogen, als Innenminister Nicolas Sarkozy mit dem Kärcher durch die Banlieues ziehen wollte. Die Spieler haben Sarkozy signalisiert, wenn er zu einem Spiel kommt, dann wollen sie nicht, dass er in die Umkleidekabine geht. Deshalb war Sarkozy noch bei keinem WM-Spiel.

Was passiert, wenn Frankreich Weltmeister wird?

Rational betrachtet wird Italien Weltmeister. Aber Fußball hat auch etwas mit Magie zu tun. Und deshalb kann Frankreich Weltmeister werden. Dann wird Frankreich einen Moment lang daran erinnert, dass die Realität eine multikulturelle Realität ist. Und die Jugendlichen, die revoltieren können, sagen selbst in ihrer Revolte: Wir gehören dazu.

INTERVIEW: THILO KNOTT