Liberté, égalité, realité

Acht Jahre nach dem letzten großen Fußballerfolg gibt es kaum noch Politiker, die versuchen, die „Black-blanc-beur“ für ihre Zwecke zu vereinnahmen

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„On est en finale“, skandiert das ganze Land, als das eins zu null gegen Portugal geschafft ist. In den Kneipen singen Menschen vieler Hautfarben die Marseillaise ab. Ein neuer Weltmeistertitel für Frankreich ist greifbar nahe. Nur acht Jahre nachdem Frankreich zum ersten Mal die Trophäe gewann.

Die „Bleus“ haben geschafft, was den Politikern schon lange nicht mehr gelingt: Sie sind über sich selbst hinausgewachsen. Sie verbreiten Optimismus. Und sie stellen nationales Zusammengehörigkeitsgefühl her. Genau wie 1998.

Die „Bleus“, die noch nach dem Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft von selbsternannten Fußballexperten als „zu alt“ und „zu faul“ und „zu gut bezahlt“ beschimpft wurden, sind jetzt Doping für das ganze Land. Seit sie auf dem Fußballfeld zum Erfolg angesetzt haben, sind die Themen, die zu Streit führen, in den Hintergrund getreten. Von der Geheimdienstaffäre „Clearstream“ über den an Massendemonstrationen gescheiterterten „Erstarbeitsvertrag“ ohne Kündigungsschutz bis hin zu den Unruhen in den Vorstädten. Die „Deklinologen“, jene liberalen Vordenker, die seit langem den angeblich bevorstehenden „Niedergang“ Frankreichs beschwören, sind vorerst verstummt.

Die neuen Helden Frankreichs sind in vielen Fällen die alten. Die Bleus sind die Seniorenmannschaft der WM. Ihr Durchschnittsalter liegt über 30. Viele Stars – von Zinédine Zidane über Lilian Thuram bis hin zu Fabien Barthez – waren schon 1998 dabei. Aber keiner der beinstarken jungen Männer hält sich für unersetzlich. Für Zidane ist diese WM der letzte große Wettkampfauftritt.

Der 73-jährige Staatspräsident hingegen, der schon 1998 gerührt die Glatze von Torwart Barthez küsste, schließt nicht aus, dass er im nächsten Jahr erneut für das oberste Amt der Republik kandidiert. Und auch sein einstiger sozialdemokratischer Premierminister, der heute ebenfalls im Rentenalter ist, droht mit einer neuerlichen Kandidatur. Damals, als Frankreich zum ersten Mal Weltmeister wurde, versuchten sowohl Jacques Chirac als auch Lionel Jospin den Erfolg der Bleus politisch zu nutzen. Der Slogan von „black-blanc-beur“ – schwarz-weiß-braun – war geboren. Er stand symbolisch für eine kulturell und ethnisch gemischte Nation, die gemeinsam siegt. Nur der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen nörgelte herum, dass die Mitglieder der Nationalmannschaft so wenig französisch seien, dass sie nicht einmal den von jedem Schulkind gelernten Text der Nationalhymne auswendig könnten.

Seither ist viel in Frankreich passiert. Der Rechtsextreme Le Pen war 2002 der zweitstärkste Kandidat im Rennen um die Staatspräsidentschaft. Ein Teil der Einwandererjugend in den Farben „black-blanc-beur“ zündete im vergangenen Herbst an die 10.000 Autos in Vorstädten an. Und der Innenminister ging mit Slogans wie „Ich werde die Banlieues kärcherisieren (mit Hochdruck reinigen)“ und „Ich werde das Gesindel verjagen“ auf Stimmenfang. Wenige Tage bevor die Bleus sich für das Endspiel in der WM qualifizierten, erklärte er das Ende des Abschiebestopps für Schulkinder ohne Aufenthaltspapiere.

Acht Jahre nach dem letzten großen Fußballerfolg gibt es kaum noch Politiker, die versuchen, die „Black-blanc-beur“ für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Damals lag ein wichtiger Urnengang hinter den Franzosen. Dieses Mal steht er ihnen noch bevor. Im Pariser Stadion Charletty buhen am Mittwochabend Tausende, als der Premierminister Dominique de Villepin von München aus einen Kommentar zum Erfolg der Bleus in die Kameras spricht. Und Innenminister Nicolas Sarkozy, der sonst keinen sportlichen Wettkampf auslässt, hat dieses Mal „zu viel Arbeit“, um nach Deutschland zu reisen. Sarkozy hat eine öffentliche Rivalität mit einem der beliebtesten Spieler der Bleus. Der von der französischen Karibikinsel Guadeloupe stammende Verteidiger Lilian Thuram hat dem Innenminister im vergangenen Herbst Scharfmacherei vorgeworfen. „Ich stamme aus der Banlieue“, sagte Thuram böse, „wir sind kein Gesindel.“

An solche Sätze denken junge Franzosen, die in der Nacht nach dem großen Erfolg auf den Champs-Elysées feiern. „Der Sieg der Bleus ist ein Erfolg der Einwanderungspolitik“, sagt ein junger Mann in die Kamera des französischen Fernsehen. Sein Französisch hat den Klang von Nordafrika. Mit beiden Händen schwingt er eine Trikolore.