„Kreativität ist der Rohstoff der Zukunft“

Die Arbeitsgesellschaft hat Risse, die Sozialsysteme brechen zusammen. Deshalb müssen Kultur und Wissenschaften neu definiert werden: nicht mehr als Subventionsempfänger, sondern als Investitionsgut, meint Adrienne Goehler

taz: Frau Goehler, in Ihrem Buch „Verflüssigungen“ entwerfen Sie eine Kulturgesellschaft, die den Sozialstaat ersetzen wird. Warum?

Adrienne Goehler: Es ist die Vision einer Gesellschaft, die mehr ist und will als der Sozialstaat, der seit geraumer Zeit implodiert. Dabei ist der Sozialstaat in seiner Konstruktion an den lebenslang vollbeschäftigten männlichen Ernährer gebunden, der als Rollenmodell inzwischen von der Regel zur Ausnahme geworden ist. Man kann ja dabei zusehen, wie sich im Minutentakt die industriellen Arbeitsplätze auflösen und im Dienstleistungsbereich die Jobs erheblich abnehmen. Also geht es darum, neue gesellschaftliche Allianzen für andere Modelle von Lebens- und Arbeitstätigkeiten zu finden. Und die liegen im kreativen Bereich, in Verbindung mit den Künsten und Wissenschaften, ihren Methoden und Arbeitsformen, aber auch in den NGOs.

Was macht die „kreative Klasse“ für das 21. Jahrhundert so wichtig?

Mit Richard Florida, einem US-Soziologen, auf den der Begriff zurückgeht, ließe sich sagen: Ohne sie gibt es keine zukunftsfähige Ökonomie. Der Rohstoff des 21. Jahrhunderts ist Kreativität – und nicht mehr Stahl. Deshalb geht Politik an der ökonomischen Entwicklung vorbei, wenn sie die Künste und die Wissenschaften weiterhin als Subventionsempfänger versteht und nicht als Investitionsgut. Im Kern dieser „kreativen Klasse“ geht es um eine Sinnhaftigkeit, die auf eine Weiterentwicklung angelegt, die derzeit aber zu wenig gesellschaftlich nutzbar ist, weil so viele Ideenträger aus diesen Bereichen mit dem nackten Überleben beschäftigt sind. Das müsste die Politik als Ressourcenverschleuderung erkennen können.

Und wie wird der arbeitslose Fernmeldetechniker in Ihrem Modell angesprochen?

Ich gehe davon aus, dass auch dieser Fähigkeiten und Erfahrungen hat, die über das Melden der Ferne hinausgehen. Und die er gerne weitergeben würde. Jeder Mensch hat den Drang, sich zu verwirklichen.

Auch mit der Gründung von Ich-AGs sollten mehr Selbstständigkeit und Eigeninitiative gefördert werden. Die Folge: jede Menge Prekarisierung und die ständige Angst, aus dem sozialen Netz zu rutschen.

Die Ich-AG ist kein Modell, da geht es schlussendlich auch um nichts anderes als um den Nachweis der Rentabilität des Einzelnen. Interessanter fände ich, dass man sich bei den Agenturen für Arbeit mit Projekten bewerben kann, über die interdisziplinärer Fachverstand entscheiden sollte. Man könnte ähnlich wie künstlerische und wissenschaftliche Jurys arbeiten, da gibt es ja eine breite Erfahrung. So etwas meine ich mit „Verflüssigungen“: gegenseitig Anleihen zu nehmen an gesellschaftlich relevanter Erfahrung. Auf der Agenda der Arbeitsagenturen muss halt das Erfinden neuer Arbeitsplätze stehen und nicht die Behauptung der Vermittlung in einen schrumpfenden traditionellen Arbeitsmarkt.

Wie soll man eine Behörde vom Vorteil solcher kreativen Arbeit überzeugen – zumal kulturelles Kapital materiell schwer greifbar ist?

Vielleicht weil erkennbar auch für Behörden der Leidensdruck steigt. Was machen wir mit der Tatsache, dass unser Schulsystem und die Unterrichtsmethoden an ihr Ende gekommen sind? Wir stehen dort vor einer Pensionierungswelle, und gleichzeitig haben wir gut ausgebildete erwerbslose AkademikerInnen und KünstlerInnen, deren Wissen und Professionalität dort eingesetzt werden könnte – was für diese Gruppe außerdem eine ökonomische Basis bedeuten würde. Im Erzeugen von Durchlässigkeiten liegen auch die kreativen Potenziale. Was machen wir eigentlich mit der wichtigen Ressource, der Zwei- und Mehrsprachigkeit, die wir durch die MigrantInnen in dieser Republik haben?

Mit Potenzialen allein finanziert man kein Sozialsystem. Wer wird in einer Kulturgesellschaft für die Kosten im Gesundheits- und im Rentenwesen aufkommen?

Es liegen ja viele Konzepte zu radikal anderen Wegen, zu Umschichtungen und Zwischenlösungen auf den Tischen, nur eben noch nicht auf denen der Politik. Verschiedene TheoretikerInnen des bedingungslosen Grundeinkommens rechnen zum Beispiel vor, dass auf der Basis heutiger Sozialausgaben, die 2005 etwa 694 Milliarden betrugen, allen BewohnerInnen der BRD ca. 700 Euro bezahlt werden könnten. Eine Kulturgesellschaft würde die Notwendigkeit pluraler Ökonomien erkennen und solche Ansätze, auch erst einmal exemplarisch, weiterverfolgen.

Angela Merkel spricht von Deutschland als „Sanierungsfall“. Woher soll das Geld für Ihr Modell kommen?

Deutschland präsentiert sich zur WM als „Land der Ideen“. Da frage ich mich, an wen man sich in diesem Land denn überhaupt wenden kann mit seinen Ideen? Im Grunde müsste es in jeder Behörde eine Tür geben, an der steht: Hier werden Ihre Ideen mit Ihnen zusammen weiterverfolgt. Grundthema der „Verflüssigungen“ ist aber auch, dass durch Ressortborniertheit und unsinnige Vorschriften immer weiter Ressourcen verschwendet werden, die in kreative Lösungen umgeleitet werden müssten.

Wo könnten künstlerische Berufe zum Einsatz kommen?

Überall dort, wo neu erfunden, gedacht, experimentiert und gestaltet, wo interkulturelle Kompetenz gefragt ist. Schließlich gehört das Immer-wieder-neu-Anfangen zu den Eigenheiten von Künsten wie Wissenschaften. Dafür bräuchte es eben statt Hartz IV verwaltungsübergreifende Projekttöpfe, die auch noch aus der Agentur für Arbeit gespeist werden müssten. Tatsächlich ragen viele Ideen aus dem künstlerischen Bereich doch in Bildung, Soziales, Gesundheit, Stadtentwicklung oder in neue ökonomische Modelle hinein. Und am Ende scheitern sie regelhaft an den aus- und abgrenzenden Ressortbedingungen, die häufig leider auch für Stiftungen gelten, erst recht für die Arbeitsämter.

Wie sähe mehr Kooperation in der Praxis aus?

Da ist etwa ein Projekt wie Tanz in den Schulen, wie wir es soeben in Berlin in 30 Klassen beobachten können. Diese Praxis zu finanzieren müsste eine Gemeinschaftsaufgabe von Schule, Kultur, Soziales und Gesundheit und Forschung sein. Tatsächlich aber droht dem großartigen Projekt das Aus, weil sich niemand dafür zuständig fühlt – auch nicht die Schulverwaltung. Das Projekt hat alle guten Argumente auf seiner Seite und in der Politik kein verantwortliches Gegenüber. Welch Leichtsinn! Zumal wenn man bedenkt, dass die Finanzierung der bisherigen Arbeit der TänzerInnen dem Äquivalent einer einzigen Oberstudienratsstelle entspricht … Es liegt vieles zum Greifen nah.

In Berlin stöhnt man jetzt schon wegen des Überangebots. Wer soll Kultur eigentlich wahrnehmen, wenn alle immer nur Kultur produzieren?

Das Problem verstehe ich noch nicht einmal für Berlin. In den meisten deutschen Städten ist es heute Realität, dass als Erstes die kommunale Galerie, dann der Jugendclub, dann die Bibliothek geschlossen werden. Zu viel an Kultur? Fakt ist doch, dass wir längst immer mehr KünstlerInnen in prekäre Verhältnisse entlassen, statt gesellschaftlich ihr Potenzial für andere Lebens- und Arbeitswege zu nutzen.Welch Verschwendung in einem aufs Sparen ausgerichteten Staat!

INTERVIEW: HARALD FRICKE