„U-Bahn-Fahren ist nicht identitätsstiftend“

Nach dem Großereignis werden viele Menschen wieder Auto fahren, sagt der Psychologe Malte Mienert. Die Bindung der Menschen ans Auto sei zu stark. Viele nutzen es zur Selbstdarstellung und ignorieren politische Appelle

taz: Herr Mienert, viele Berliner hätten während der Fußball-WM ihr Auto stehen gelassen, jubelt die Verkehrssenatorin. Wird das so bleiben?

Malte Mienert: Das ist unwahrscheinlich. Auch wenn tatsächlich viele Menschen auf Bus, Bahn oder Fahrrad umgestiegen sind, um im Trubel durchzukommen: Ein Großereignis wie die WM bewirkt keinen längerfristigen Lerneffekt. Dafür ist die Bindung der Menschen ans Auto zu stark. In den kommenden Wochen werden die Leute ihr liebstes Verkehrsmittel wieder aus der Garage holen.

Warum hängen viele so sehr am Auto?

Das liegt an einer Vielzahl von Faktoren. Zunächst machen die meisten von uns schon in der Kindheit positive Erfahrungen mit dem Auto. Der Vater holt seine Kinder mit dem Wagen von der Grundschule ab, weil er das für sicherer hält, als sie zu Fuß gehen zu lassen. Wenn Jugendliche allein im Straßenverkehr unterwegs sind, erleben sie Autos als stark und dominierend. Mit 18 Jahren können sie endlich selbst die Starken sein; der Führerschein ist ein Ritual des Erwachsenwerdens. Sein Erwerb wird in vielen Familien ja gefeiert.

Kindheitserfahrungen sind sicher wichtig. Aber Erwachsene sollten doch rational entscheiden – und, wenn’s billiger ist, eher Bus fahren.

Der Mensch ist in seinen Überzeugungen erstaunlich stabil. Verkehrspsychologen unterscheiden bei Autofahrern drei Grundmotive. Zunächst sprechen pragmatische Überlegungen dafür. Ich komme flexibel und kostengünstig von A nach B, es regnet nicht rein. Auch beim Wunsch nach Komfort und Sicherheit schneidet der Wagen gut ab: Ich sitze, kann Radio hören und die Klimaanlage einschalten. Ganz wichtig ist aber der Aspekt der Selbstergänzung: Mein Auto ist ein Teil meiner Persönlichkeit.

Der träfe beim gut gebräunten Geschäftsmann zu, der im Mercedes-Cabrio den Ku’damm entlangfährt?

Richtig. Wenn eine Gruppe aus der Kneipe kommt, hören Sie oft den Satz: „Ich steh da drüben um die Ecke.“ Solche Sprachmuster entstehen nicht von ungefähr. Die Werbung betont, wer sportlich oder dynamisch sein will, muss dieses oder jenes Modell kaufen. Die Werbestrategen wissen, dass niemand ein Auto kauft, weil es ABS hat. Die selbstergänzende Funktion des Autos kann der öffentliche Nahverkehr nicht übertrumpfen. U-Bahn-Fahren ist nicht identitätsstiftend.

Der Senat hat eine Kampagne „Berlin steigt um“ gestartet, die zum Beispiel kostenlose Radparkplätze beinhaltet. Sind solche Instrumente nutzlos?

Nein. Sie entfalten aber nur auf sehr lange Sicht Wirkung. Die Politik agiert bei diesem Thema widersprüchlich: Einerseits fordert sie Mobilität und Flexibilität bei der Jobsuche, andererseits legt sie Bürgern das Radfahren nahe. Generell ist aber richtig, positive Anreize zu setzen. Verkehrspsychologen sind sich in einem Punkt einig: Die Leute zum Verzicht aufs Auto zu bewegen ist unrealistisch. Man kann sie nur zur sinnvollen Wahl anhalten.INTERVIEW: ULRICH SCHULTE