Ein Nagetier im trauten Heim

„Lemming“ von Dominik Moll

Die Metapher ist so weit verbreitete, dass sie schon fast zum Allgemeinplatz degeneriert ist: Die Lemminge stürzen sich massenhaft ins Meer und begehen als einzige Tierart kollektiven Selbstmord. Solch eine Wühlmaus gibt diesem Psychodrama nicht nur seinen Titel, sondern sie verstopft auch zum Beginn des Films den Abfluss in dem adretten kleinen Haushalt eines scheinbar glücklichen Ehepaares. Aber wie kommt ein Nagetier, das nur in Skandinavien lebt, in eine schicke südfranzösische Wohnsiedlung? Und warum wirkt der Eindringling wie eine böse Saat in dieser Idylle, die schnell bedrohlich hässliche Blüten treibt und den Ingenieur Alain sowie seine Frau Bénédicte schließlich an den Rand eines existentialistischen Abgrunds treibt?

Gleich vom Anfang an baut Dominik Moll mit diesem irritierenden Rätsel eine eigenartige zweite Ebene in seinen Film ein, bei der sich das Irreale mit dem Alltäglichen mischt. Und auch die junge Ehe ist einen Tick zu perfekt, Alain und Bénédicte haben es sich in ihrer Zweisamkeit so bequem gemacht, dass einem davon schon unheimlich wird. Alain ist ein erfolgreicher Ingenieur, der eine fliegende Mischung aus Webcam und Helicopter entwickelt hat. Ein schönes Spielzeug, mit dem auch der Regisseur zum Beginn des Films viel Spaß hat, aber auch ein Werkzeug, mit dem man andere über weite Entfernungen hin heimlich überwachen kann. Obwohl das Gerät bei der ersten Präsentation spektakulär in die Brüche geht, ist Alains Chef Richard begeistert, und nimmt eine Einladung zum Abendessen bei diesem an. Hier taucht der ältere Mann schließlich viel zu spät mit seiner Frau Alice auf, die sich als eine Furie entpuppt, die auch im Hause die schwarze Sonnenbrille nicht abnimmt, ihrem Mann ein Weinglas ins Gesicht schleudert und die Gastgeber mit Obszönitäten belegt. „Und damit wurde alles anders“ , sagt darauf hin die Erzählstimme von Alain.

Was für ein Auftritt für Charlotte Rampling - die zur Zeit wohl tödlichste femme fatal des Kinos. Keine andere kann so unausstehlich, enervierend aber zugleich auch so faszinierend sein, und Dominik Moll weiß genau, wie und wann er dieses Bündel von Bosheit in seinem Film explodieren lassen muss. Ein wenig später traut man ihr sogar zu, dass sie aus reiner Gehässigkeit Selbstmord begeht, und dann als Geist Besitz von der bis dahin so sympathischen Bénédice ergreift. Das eben noch so glückliche Paar verstrickt sich immer tiefer in Eifersucht, sexuelle Fantasien und Schuld. Aber dies ist einer von den Filmen, bei denen man nicht zuviel vorher verraten darf, denn nach dem missglückten Essen verzweigt er sich in dunkle, labyrinthische Irrwege, und der Regisseur entwickelt dabei eine makabre Komik, die zu seinem musischen Nachnamen so gar nicht passen will. Der Film ist extrem symmetrisch strukturiert. Alles kommt in Paaren und wird gespiegelt. Wie Hitchcock liebt Moll es, falsche Spuren zu legen, und er lädt mit seinem Film zu einer intellektuellen Fährtensuche ein, bei der die Auflösung am Schluss dann natürlich selbst die gewagtesten Kombinationen des Publikums übertreffen muss. Der Film muss im letzten Jahr den Zeitgeist von Cannes genau getroffen haben, denn dort lief auch der thematisch ähnlich gelagerte „Caché“ von Michael Haneke.

Im letzten Drittel hält Moll trotz seiner geschickten Dramaturgie und visuellen Raffinesse die Spannung nicht ganz durch und seine stilistischen Spielereien drohen zum Selbstzweck zu geraten. Doch davor bewahren den Film dann wieder die glänzend aufgelegten Schauspieler, unter denen besonders Charlotte Gainsbourg beeindruckt, denn weil sich ihre Bénédict immer mehr in Alice verwandelt, spielt sie im Grunde eine Doppelrolle. „Lemming“ bietet ein subtil, subversives Kinovergnügen - und ewig droht das Nagetier.

Wilfried Hippen