„Ich bin nicht der Alibi-Türke“

Wenn von Migranten die Rede ist, geht es fast immer um Gefahren und Defizite. Das muss sich ändern – indem mehr Migranten im öffentlichen Dienst arbeiten und die Politiker aufhören, mit Sanktionen zu drohen, fordert Kenan Kolat

taz: Herr Kolat, Sie vertreten die Türkische Gemeinde beim heutigen Integrationsgipfel. Was versprechen Sie sich von dem Treffen mit der Kanzlerin?

Kenan Kolat: Ich hoffe, dass es zwei Botschaften geben wird. Erstens eine positive Botschaft an die Migranten: Ihr seid Teil dieser Gesellschaft, ihr gehört zu uns. Und eine Botschaft an die Mehrheitsbevölkerung: Schaut her, fast zwanzig Prozent der Menschen, die hier leben, haben einen Migrationshintergrund. Wir werden auch in Zukunft viel Migration haben, und wir sollten dies gemeinsam als Chance nutzen. Wenn es diese zwei Botschaften gibt, bin ich zufrieden.

Die Linkspartei-Politikerin Sevim Dagdelen hat Sie gewarnt. Sie sollten sich nicht instrumentalisieren lassen, um eine restriktive Politik zu legitimieren. Sind Sie der Alibi-Türke bei einer Regierungsshow?

Ich danke Frau Dagdelen sehr für diese Warnung. Ob ich Alibi-Türke bin oder nicht – das wird man an meinen Äußerungen schon merken. Ich bin ziemlich lange im Geschäft und scheue mich nicht, zu sagen, was gesagt werden muss. Zum Beispiel werde ich sagen: Lieber Herr Schäuble, nehmen Sie Ihre Gesetzentwürfe und Ihre Pläne zur Verschärfung des Aufenthaltsgesetzes und des Staatsangehörigkeitsgesetzes zurück. Das können wir nicht akzeptieren.

Sie kommen also ins Kanzleramt, um zu protestieren?

Nein, wir sind zu einem offenen Dialog bereit und wir nehmen die Bundesregierung beim Wort. Sie hat erklärt, sie wolle nicht mehr über die Migranten sprechen, sondern mit ihnen. Das begrüße ich sehr. Aber dann muss auch Kritik erlaubt sein.

Wie bewerten Sie denn die Politik der großen Koalition im Vergleich zu Rot-Grün?

Insgesamt können wir kaum Verbesserungen erkennen. Wir hatten vor einigen Jahren mit dem Staatsangehörigkeitsrecht eine positive Entwicklung, weil das Geburtsprinzip eingeführt wurde. Kinder, die hier geboren werden, sind automatisch Deutsche. In den letzten Monaten gibt es wieder zunehmend die Tendenz, Migranten nur als Problem und Gefahr zu sehen. Ich denke dabei an die unsinnigen Gesinnungstests in Baden-Württemberg, die neuen Einbürgerungsverhinderungsregeln oder Schäubles Plan, das Nachzugsalter anzuheben. An Migranten werden nur noch Forderungen gestellt. Vergessen wird, dass der Staat eine Verantwortung hat, um die Rahmenbedingungen und die Atmosphäre für eine gelungene Integration zu schaffen.

Und das wird durch den Integrationsgipfel erreicht?

Ich hoffe es. Ich hoffe, dass positive Aspekte in den Vordergrund gestellt werden. Manche Politiker tun das ja schon. Ich denke etwa an den Integrationsminister von NRW, Armin Laschet, der als erster CDU-Politiker eine Einbürgerungskampagne vorgeschlagen hat. Das muss aber bei einigen anderen Politikern erst noch ankommen. Ich will, dass es in der Union, aber auch in der SPD viele Laschets gibt.

Kann aus Schäuble ein Laschet werden?

Das kann man noch nicht sagen. Manche Äußerungen von Herrn Schäuble sind sehr hart, manchmal höre ich von ihm aber auch versöhnliche Worte. Er spricht von Beteiligungsmöglichkeiten der Migranten, er spricht über Bereicherung durch Zuwanderung. Zwischen den Zeilen hört man heraus, dass sich seine Haltung vielleicht verändert. Aber das passt nicht zu den Gesetzen, die der Innenminister plant.

Fährt die Regierung also eine zweigleisige Strategie: freundliche Worte, harte Gesetze?

Ja, aber das geht natürlich nicht. Man kann nicht auf der einen Seite lächeln und auf der anderen Seite Türen für Migranten zuschlagen. Wir brauchen neue, konstruktive Lösungen.

Die SPD will Sanktionen für Ausländer, die Sprachkurse verweigern. Ist das konstruktiv?

Nein, das ist ein alter, unsinniger Vorschlag. Im bestehenden Gesetz sind ja bereits entsprechende Möglichkeiten vorgesehen. Aber ständig Sanktionen anzudrohen, bringt nichts. Das vergiftet nur die Atmosphäre.

Wenn der Staat Angebote macht und Geld für Kurse ausgibt, muss er den Steuerzahlern dann nicht auch sagen können: Wir fordern eine Gegenleistung, notfalls auch mit Druck?

Nicht nur für den Steuerzahler, sondern auch für mich ist es wichtig, was mit diesen Geldern geschieht. Wir brauchen eine Evaluation über alle Maßnahmen. Auf der anderen Seite lassen sich bei Türken solche Sanktionen sowieso nicht umsetzen. Durch das Assoziationsabkommen mit der EU kann man sie gar nicht einfach so rauswerfen. Es kommt also darauf an, die Leute zur Integration zu motivieren. Das geht, wenn man richtige Angebote macht. Viele haben ja behauptet, dass die Ausländer gar kein Deutsch lernen wollen – dann hat man Mütterkurse in Berlin eingeführt. Die sind voll, mit Wartezeiten bis zwei Jahren.

Es läuft aber nicht überall so.

Stimmt. Aber um die Motivation zu erhöhen, sollte man nicht Sanktionen androhen, sondern einen Ansporn geben. Wie wäre es mit einem Belohnungssystem? Wer erfolgreich und engagiert an Integrationskursen teilnimmt, bekommt schneller einen unbefristeten Aufenthaltstitel, der ihm weitere Gänge zum Ausländeramt erspart – und nicht erst nach fünf Jahren.

Die Einbürgerungszahlen sinken. Woran liegt es, dass immer noch relativ wenige Türken Deutsche werden wollen?

Es liegt an den konkreten Gesetzen. Eine Voraussetzung für die Einbürgerung ist, dass man seinen Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln bestreitet. Die Arbeitslosigkeit ist aber dramatisch hoch, bei Türken in Großstädten bis zu 45 Prozent. Die haben keine Chance. Ein zweiter Grund ist das Verbot der Mehrstaatlichkeit. Das schreckt vor allem ältere Migranten aus der ersten Generation. Ich habe deshalb angeregt, wenigstens für diesen Personenkreis die doppelte Staatsbürgerschaft zuzulassen. Auch die Deutschprüfungen wirken abschreckend. Viele haben Angst, das nicht zu schaffen.

Aber Deutschkenntnisse muss man doch verlangen können?

Natürlich. Wer Deutscher werden will, muss die deutsche Sprache können, muss auch geprüft werden, da gibt es keine Diskussion. Aber die Anforderungen dürfen nicht immer höher werden. Ich habe den Berliner Test mal deutschen Hauptschülern vorgelegt und festgestellt, dass ihn viele nicht bestehen würden.

In der Politik gibt es inzwischen einen Konsens: Sprache und Bildung gelten als Schlüssel zur Integration. Richtig?

Natürlich müssen die Kinder Deutsch lernen. Niemand bestreitet das. Aber das ist nicht die Lösung aller Probleme. Es gibt auch die Kinder, die gut Deutsch sprechen, die Real-Abschluss oder sogar Abitur haben – und trotzdem wegen Diskriminierungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt keinen Job finden. Darüber spricht niemand. Es gibt viele türkische Hochschulabsolventen, die als Taxifahrer arbeiten.

Was soll geschehen?

Man könnte die interkulturelle Kompetenz der Migranten viel besser nutzen. Der Staat sollte da mit gutem Beispiel vorangehen. Der Anteil der Migranten im öffentlichen Dienst liegt unter 1 Prozent. Ich schlage vor, eine Quote von 10 Prozent einzuführen. Das würde die Identifikation der Migranten mit diesem Staat stärken – wenn wir auch mal einige von uns da oben sehen.

INTERVIEW: LUKAS WALLRAFF