zwischen den rillen
: Einsatz in Manhattan

Die Lower East Side gestern und heute: „First Thought Is Best Thought“ von Arthur Russell und „Everything“ von Micah

„Die Straße“ als Authentizität verheißende Eigenschaft für Musik ist aus dem angloamerikanischen Popbusiness nicht wegzudenken. Immer schon gibt es auch Popkünstler, die „die Straße“ weniger abstrakt populistisch, dafür aber konkret als Bezugsgröße für das eigene, städtisch verwurzelte Musikschaffen verstehen. Der New Yorker Musiker Micah Gough wird zum Beispiel oft gesehen, wie er durch die Straßen der Lower East Side in Schottenrock, Pelzjacke und mit Saxofonkoffer geht. Micah ist Bestandteil der aktuellen Downtown-Szene, er gehört zur Working Band von Arto Lindsay und zum Rockorchester des Musikkritikers Greg Tate. Seinem Debütalbum „Everything“ ist die Wandlungsfähigkeit der Erzählkunst bereits nach wenigen Takten anzuhören.

Der Beat von „Constant“, mit dem der Saxofonist den Reigen seiner Songs eröffnet, schreitet gerade und laid back voran. Mit relaxter Stimme erzählt Micah vom Faible für bestimmte Restauranttische und kratzt knapp vor dem unisono mit der Synthesizer-Melodie die Kurve. Der Vortragende bedeutet wenig später, dass er jemand immer mehr mag, und sein Lamento klingt ganz und gar nicht rührselig. „Everything“ wird getragen von disparaten musikalischen Elementen und krausen Gedanken. In „Knitting“ spricht sich Micah etwa gegen das Stricken beim U-Bahn-Fahren aus, begleitet von stotterndem Beat und einem perlenden Riff auf dem Fender-Rhodes. Zwar nutzt der Künstler die musikalischen Mittel von Hiphop, lässt Samples zum Einsatz kommen und die Beatbox den Rhythmus beschreiben, aber bereits mit dem Gesang schwenkt er über auf abstraktere Downbeatgefilde. Micahs Gesang läuft dabei nie Gefahr, in die bleierne Triphop-Ära zurückzufallen, in seinen Gesangsmelodien steckt mehr Tradition. Wenn es ein Motiv gibt, das sich durch seine Musik zieht, ist es Rastlosigkeit.

Der Kerl ist nicht nur „Everything“, sondern auch „everywhere“. Er hat einen Spielfilm angekündigt. Er malt, er schreibt, und weil es nichts gibt, was er noch nicht gemacht hat, komponierte er eine Oper namens „Puppet“, die in der Lower East Side aufgeführt wurde. „Everything“ heißt „alles Mögliche“, und wenn er nicht plötzlich anfängt, vorsätzlich herumzulungern, kommt da sicher noch mehr.

Als Arthur Russell 1992 im Alter von 40 an Aids starb, hinterließ er über 1.000 Bänder mit unterschiedlichsten Versionen seiner Musik. Für den Walkman präparierte sich Russell diese Tapes mit Versionen seiner eigenen Musik. Ganze Tage soll er damit durch die Lower East Side gewandert sein. Von seinem New Yorker Nachbarn Allen Ginsberg wurde Arthur Russells Musik einmal als „buddhistischer Bubblegum-Pop“ bezeichnet. Ob dieser damit die furiosen Discotracks meinte, die der klassisch geschulte Russell für die Spätsiebziger-Dancelabels einspielte oder seine improvisierte Avantpop- Kammermusik, lässt sich nicht mehr ergründen. Möglich, dass es zwischen den losen Enden dieser Klanguniversen mehrere Verknüpfungspunkte gab.

Mit „First Thought Is Best Thought“ erscheint nun der dritte Teil mit unveröffentlichtem Material aus Russells Nachlass. Der Titel benennt seine wichtigstes Maxime. Egal, ob er einen Dancetrack einspielte oder Auftragsarbeit für ein Theaterstück von Robert Wilson, die musikalischen Zusammenhänge ergaben sich ihm beim Jammen. Er glaubte an die Intuition beim Hören. „First Thought Is Best Thought“ widmet sich Werken für ein Kammerorchester, das durch zwei Mitglieder von Jonathan Richmans Modern Lovers verstärkt wurde. Russell war erklärter Fan der Band. Sein Cello ist das Signalinstrument. Dessen leises Feedbackwummern geht in den fanfarenhaften sustained notes seines Ensembles auf. Auf Russells Handzeichen, so einer der Beteiligten, habe man Akkorde gewechselt, sprang von einem Groove in den nächsten.

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Musik ist ihre Unentschiedenheit. Sie hat mesmerisierende Harmonien, aber die sind lange nicht so formstreng wie die Werke der Minimal Music. Es gibt Drone-artigen Skulpturen, in die sich aber gelegentlich eine Country-Tönung zieht. Russells Wurzeln liegen in Iowa, aber keiner verkörperte besser das Egalitätsprinzip der Downtown-New-York-Musikszene der Siebziger und Achtziger zwischen Pop und Avantgarde. Vielleicht wird dereinst eine Straße der Lower East Side nach ihm benannt. JULIAN WEBER

Micah „Everything“ (Accidental); Arthur Russell „First Thought is best Thought“ (Audika/Rough Trade)