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: Alles nur Langeweile und Plunder: Barbey d’Aurevillys Abrechnung mit Goethe

Neben einer Übersetzung der isländischen „Edda“ (1812) veröffentlichte Friedrich Rühs 1813 daran anhängend eine Streitschrift. Der 1810 in Berlin zum Professor berufene Rühs ist heute außer für seine Studien der Nordistik bekannt als Verfasser übler antisemitischer Traktate. In seinem „nothwendigen Nachtrag“ zerreißt Rühs drei Rezensionen der „Herren Gebrüder Grimm“, die gegen seine Werke zielen. Bekannt, so Rühs, seien die Grimms durch „ganz erbärmliche Übersetzungen aus dem Dänischen“, eine „elende Märchensammlung“ und eine „unendliche Zahl von Projecten und Ankündigungen“. Rühs nimmt jede kleine Bemerkung der Grimm-Brüder auf. Hoch zufrieden sei er mit jeder ihrer Äußerungen. Denn so könne er das Publikum „über das vollständigste von ihrer groben und unbegreiflichen Unwissenheit, von der boshaftesten und frechsten Verfälschung, von der erbärmlichsten Verdrehung, der nichtswürdigsten Krittelei und Chikane und offenbarsten Aberwitz“ in Kenntnis setzen. Auf solches gehe alles zurück, was das Brüderpaar produziere. Heute sind die Brüder Weltstars. Den Professor Rühs kennen nur noch Spezialisten für Nordistik und Antisemitismus. Es gibt aber auch den Fall, wo sich jemand an eine längst etablierte oder ständig wachsende Größe wagt und sie zurechtzustutzen versucht. Der Kritiker und Schriftsteller Jules Barbey D’Aurevilly zählt dazu, und er nimmt sich Großes vor: Goethe!

Es ist die Zeit um 1870. Die Preußen bombardieren gerade Paris. D’Aurevillly entdeckt im Werk des großen Deutschen vor allem eines: Stumpfsinn und Unoriginalität. Von allen Geschossen, die über Paris niedergingen, seien Goethes „Sämtliche Werke“ die schwersten gewesen: „Er bombardierte mich mit Langeweile.“ D’Aurevillys Abrechnung zielt auf die Goethe-Bewunderer in Frankreich ab und ist zugleich ein Tribut an die Deutschland-Verächter. Hemmungslos zieht er über alles her, was Goethe in seiner Lebenszeit geschaffen hat. Ohne Madame de Staël wäre er nur ein „deutsches Geräusch“ gewesen, lästert er. Die Eigenschaften, die den Charakter des Genies auszeichneten, nämlich Spontanität und Überschwang, seien etwas, was Goethe völlig abgehe. Ein Mann ohne Persönlichkeit! Goethes Stoffe, alle seine Figuren seien komplett gestohlen, einzig Gretchen seine originäre, wenn auch flache Konstruktion. Goethe ahme mit „Götz von Berlichingen“ Shakespeares Historiendramen nach und schaffe ein Bild sinnloser Sprunghaftigkeit, ein Drama „wie von der Tarantel gestochen“.

Unbeeindruckt durchschreitet D’Aurevilly alle Genres, in denen sich Goethe betätigte. Als Dichter entdeckt er in ihm einen Altwarenhändler und bedauert den Übersetzer, der seine Werke ins Französische übertragen musste. Mit dem „Werther“ erweise sich Goethe als Blutsauger, der die Leidenschaft eines anderen Menschen in sein eigenes Ich mische. Goethes Stärke und einzige schöpferische Qualität beschränke sich auf die Produktion unermesslicher Langeweile. Doch immerhin findet D’Aurevilly auch etwas Gutes: In der Botanik sei Goethes Metamorphose durchaus ein Ruhmestitel – das aber war’s: „Sonst nur Plunder.“ D’Aurevillys Polemik zielte auch gegen den Literaturkritiker Sainte-Beuve, der Goethe in den Himmel hob. Goethe war jedoch nicht der Einzige, den D’Aurevilly abschoss: Flaubert, Zola und Mallarmé gehören für ihn ebenfalls in den Müll.

Im Nachwort erläutert Lionel Richard anschaulich diese und andere Zusammenhänge und stellt D’Aurevilly als Persönlichkeit vor, dessen Markenzeichen Intoleranz war. Er ertrug weder Demokraten noch Vertreter der sozialen Revolution. Trotzdem macht es Spaß, diese Respektlosigkeiten, Verdrehungen und Gemeinheiten zu lesen. Es ist wie „Post von Wagner“, dem „Sudel-Goethe“ der Bild-Zeitung– nur sehr viel besser. WOLFGANG MÜLLER

Jules A. Barbey d’Aurevilly: „Gegen Goethe“. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Matthes & Seitz, Berlin 2006, 144 Seiten, 19,80 Euro