Glückliches Abhängen in einer entschleunigten Welt

Am Wochenende ging in der sachsen-anhaltinischen Einöde des ehemaligen Braunkohlegebiets das wunderbare „Melt!“-Festival über die Bühne

Festivals und Journalisten passen einfach nicht zusammen. Hingehen, angucken und schon wieder weg – so nehmen wir die Welt wahr. Aus den Notizen destillieren wir anschließend die Essenz der Veranstaltung. Aber bitte schnell: Zeit ist Geld. Zeile sowieso.

Unter diesen Umständen gelingt das Auswringen der Eindrücke mal mehr, mal weniger und mal überhaupt nicht: etwa bei mehrtägigen Musikfestivals wie dem Melt!, das am Wochenende zum neunten Mal in der sachsen-anhaltinischen Einöde Gitarren- und Elektromusik verschmelzen ließ. Denn dieses Schnell-hin-schnell-weg widerspricht dem Geist einer Großveranstaltung der Entschleunigung.

Um nicht in die Journalistenfalle zu tappen, ist dieser Text ganz ohne Notizen entstanden. Deswegen spielt er auch auf dem Campingplatz, wo die meisten Festivalbesucher mehr Zeit verbringen als auf dem von fünf surreal-monströsen Braunkohlebaggern überragten Gelände, der Stahlstadt Ferropolis bei Dessau. Nur über die Musik zu schreiben hieße, nichts verstanden zu haben. Die Musik dient als Kulisse, vor der ein anderes Leben auf Zeit möglich wird. Oder wie es ein Bekannter eines Bekannten formuliert, den ich unter dem Sonnenschutz aus zwei zwischen die Zelte gespannten Abdeckplanen treffe: „Festivals sind so geil. Aufstehen, kiffen, und keiner stört sich dran.“

Wir sind zu fünfzehnt, gute Freunde und solche, die es im Laufe des Wochenendes werden, haben unsere sieben Zelte im Kreis aufgebaut, aus denen die pralle Sonne uns nach einer kurzen Nacht schon morgens um neun wieder vertreibt. Also dämmern und dösen wir im Schatten in den Tag hinein, der eine oder andere hat schon eine Dose Bier in der Hand, zwischendurch gehen wir mal kurz im Grimmener See schwimmen, der in diesem Jahr erstmalig zum Baden freigegeben wurde und eine schöne Alternative zu den chronisch überfüllten und kostenpflichtigen Duschcontainern ist. Wenn wir nicht gerade planschen oder dösen, essen wir. Kaum ist das Frühstück aus Toastbrot, Nutella, Scheiblettenkäse und Instantkaffee vorbei, wird der Grill an- und allerlei gerade noch vakuumverschweißtes Fleisch draufgeschmissen, das wir extra ein bisschen länger auf dem Rost lassen – in der Hoffnung, diese Vorsichtsmaßnahme möge die unterbrochene Kühlkette kompensieren und uns vor Unannehmlichkeiten bewahren (hat offenbar funktioniert!).

Die erste Festivalnacht am Freitag haben wir da schon hinter uns, haben uns drüber geärgert, dass man entgegen der Ankündigung doch keine Tetrapaks mit aufs Gelände nehmen durfte (was am Samstag plötzlich erlaubt ist), dass die Band-T-Shirts genau so unverschämt teuer sind wie das konsequent schaumlos gezapfte Bier (0,5 Liter 4 Euro) und uns ungläubig gefragt, wie das mit dem günstigen Ticketpreis von 55 Euro für zwei Tage und über 50 Acts zusammengeht. (Genau so, David! Mit billigem Eintritt locken und dann über das Bier alles wieder reinholen. So funktioniert Kapitalismus! d. Red.)

Wir haben uns natürlich auch gefreut – etwa über die wunderbar-schlurfigen The Kooks, deren Klamotten älter zu sein schienen als die Jungs selbst, und die Vorfreude bei ihrem Set, währenddessen man sich nicht nur im Abendlicht, sondern auch im Lächeln der anderen Festivalbesucher sonnen konnte. Auch der Eighties-Style des stoischen We-are-Scientists-Bassisten Chris Cain (Diese Brille! Dieser Schnäuzer!) beeindruckte, genau wie die perfekt eingespielte Performance der drei New Yorker. Zwischendurch zurück zum Zelt, Jacke und lange Hose überziehen, nach Sonnenuntergang wurde es richtig kalt. Also wärmten wir uns am Grill und nahmen billigend in Kauf, darüber … And You Will Know Us By The Trail Of Dead und Teile von Art Brut zu verpassen. Da war sie wieder, die Härte, mit der man unweigerlich auf das musikalische Überangebot reagiert.

Vier Bühnen – weil sich dann auch noch der Zeitplan leicht verschob, blieben nach der abendlichen Fleischration nur ein paar Minuten für Hot Chip, weil die meisten von uns weiter zu Phoenix wollten, diesen kleinen Franzosen mit den großen Indiepopsongs, die auf ihrem neuen Album „It’s Never Been Like That“ plötzlich den Rock für sich entdeckt haben. Zum Tanzen brachte ihr Publikum vor allem die alten Hits „Everything Is Everything“, „Run Run Run“ und „If I Ever Feel Better“.

Die einzige wirkliche Enttäuschung des ersten Abends war der lahme Auftritt der groß angekündigten Pet Shop Boys nach Mitternacht, deren seltsame Kostümshow an eine Village-People-Coverband erinnerte. Bei diesem dichtgepackten Zeitplan blieb auch am zweiten Abend kein Raum für Entdeckungen, wir hakten unseren auf dem Zeltplatz minutiös geplanten Stundenplan ab, ein bisschen Editors, Tomte, The Streets, Aphex Twin, einige haben auch noch 2manydjs, Nightmares On Wax, Roni Size & Dynamite MC sowie Digitalism gesehen – vieles davon ist einfach an uns vorbeigerauscht. Vielleicht wäre weniger mehr gewesen. Und so werden wir uns bald wohl kaum noch an einzelne Auftritte beim „Melt!06“ erinnern können, schon eher daran, wie Christian M. seinen Bartflaum tanzen ließ (die Oliba-La-Ola war geboren!). Dieser Moment gehört nur uns: uns 15 von 13.000 Melt!-Besuchern. DAVID DENK