Gelehrter Smalltalk

Fünf Tage referierten und diskutierten 120 Wissenschaftler und Künstler auf der von Messe Frankfurt und Schirn Kunsthalle initiierten Kulturzone 06 und blieben doch hinter den Erwartungen zurück

VON HORTENSE PISANO

Als Niklas Luhmann vor zehn Jahren in „Die Kunst der Gesellschaft“ eine kritische Analyse des Begriffs Kultur vorlegte, definierte er Kultur als „Perspektive für die Beobachtung von Beobachtern“. Er rekonstruierte den Begriff als eine Erfindung des 18. Jahrhunderts, in einem Europa, dem die Begegnung mit fremder Völkern zum zentralen Motiv eines verstärkten Interesses am Vergleich wurde. Je fragwürdiger die Prämissen dieses Vergleichs im Lauf der Zeit wurden und damit zur Relativierung des modernen Kulturbegriffs führten, desto stärker wurde paradoxerweise die Position der Kultur. Also schlussfolgerte der Bielefelder Soziologe in bekannt ätzender Manier, Kultur sei einer der „schlimmsten Begriffe“, die je gebildet wurden, und die Beobachtung von Religion oder Kunst als Kultur habe schlicht „verheerende Folgen“ gezeitigt.

Wollte die am Sonntag zu Ende gegangene, von der Schirn Kunsthalle und der Messe Frankfurt organisierte Veranstaltung „Kulturzone 06“ den Beweis für die Richtigkeit seiner These antreten? „Unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen des kulturellen Diskurses“ sollten hier, so die Organisatoren, entfaltet werden. Das Resultat war ein Marathonkongress, der gleich fünf Tage für fünf wechselnde Themen reservierte: „Wellen, Trends und Frühwarnsysteme“, „Alles denkt – nur nicht der Mensch“, „Goodbye Subkultur, hello Erfolgskultur“, „Rethinking Spirituality – die Wiederkehr des Religiösen“ sowie „Ich-AG vs. Community – die Kultur der Gemeinschaft“.

In Anbetracht der populärwissenschaftlichen Themenwahl und des prall gefüllten Programms aus Vorträgen und Diskussionen von 120 Wissenschaftern, Literaten, Publizisten, Künstler und Designern, erweiterte durch ein Crossover aus Musik, Film, Kunst und Mode im eigens designten Culture Club, drängte sich von Beginn an die Frage auf, ob sich die Veranstaltung im Forum der Messe Frankfurt schon mit dem Nebeneinander unterschiedlicher Diskurse begnügen wollte.

Dass wichtige Fragen aufgeworfen, aber keinesfalls vertieft werden sollen, dieser Eindruck stellte sich bereits am ersten Kongresstag ein. Thomas Macho, Kulturwissenschaftler und Professor an der Humboldt-Universität Berlin, registrierte einen „markanten Verlust einer positiv diskutierten Zukunft“, nachdem er einen historischen Abriss geliefert hatte, der von den Orakeln der alten Hochkulturen bis zu den aktuellen Zukunftsberechnungen führte. No Future habe überlebt, die Fortschrittsutopien würden immer schneller skeptisch behandelt. Macho erinnerte nicht ohne Ironie an die Begeisterung für die Atomenergie in den 50er-Jahren der Bundesrepublik. Das positive Echo auf die Fortschrittsutopien der 50er-/60er-Jahre gäbe es heute nicht mehr. Punkt. Den Sachverhalt, dass sich die Literatur von der Zukunftstheorie verabschiedet habe, führte Macho leider nicht weiter aus – und damit auch nicht, welche Konsequenzen dieser Abschied von der Utopie haben könnte.

Elena Esposito toppte ihren Vorredner dann mit der provokanten These: „Es gibt die Zukunft nicht, weshalb also der Versuch, sie zu bestimmen?“ Die italienische Soziologin und Philosophin verwies auf das Paradox, dass Frühwarnsysteme Sicherheit implizieren, dabei aber doch nur Kontrollmechanismen der Gegenwart sind. „Wellen und Trends strukturieren nur die Gegenwart“, erklärte Esposito ihren Standpunkt, nicht die Zukunft.

Die Mode als etwas Gegenwärtiges, Vorläufiges, das sich wirksam durchsetze und dabei völlig inhaltslos sei, könne uns lehren, die nahe Zukunft als etwas zu betrachten, das Überraschungen bereithält. Nun ist die Mode sicher ein hochgradig anschlussfähiges Phänomen und verbindendes Element für ganz verschiedene Gruppen. Doch ist sie deshalb tatsächlich inhaltslos – oder nicht eher flexibler Träger von Projektionen oder Codes? Und hat sich ihr Modell nicht längst auf den politischen Reformprozess übertragen, zu Ungunsten vieler Themen, die – wie sich mehr und mehr abzeichnet – bereits nach einer Legislaturperiode out of fashion sind? Interessanterweise thematisierte Esposito einen Punkt, der auf dem gesamten Kongress ausgespart blieb. In Anbindung an Luhmann und Sigmund Freud paraphrasierend sprach Esposito über das „Unbehagen am Kulturbegriff“: Der unklare Begriff der Kultur werde nur in Ermanglung eines besseren beibehalten.

Wie sich also dem in so verschiedene Perspektiven zerfallenden Begriff von Kultur nähern? Die Antwort der „Kulturzone 06“ hieß Appetithäppchen. Aber an wen richtete sich der mit großem Aufwand betriebene Kongress eigentlich? Ausdrücklich nicht ans reine Fachpublikum und offenbar auch nicht an Studenten, deren Anzahl gering blieb. Wichtiger als der Kostenfaktor (36 Euro für das ermäßigte Ticket) dürfte für den Nachwuchs gewesen sein, dass die jüngere Generation auf dem Podium komplett fehlte. Mehr Mut zu einem Risiko des Handelns, mehrfach von den Rednern gefordert, hätte auch der Kulturzone mit ihrem Überschuss an namhaften Referenten gut getan.

Wenn schon Reden über Kultur, wie es Ulf Poschardt, Chefredakteur der ab Herbst startenden deutschen Ausgabe von Vanity Fair, in einem früheren Artikel (taz vom 30. 9. 05) gefordert hat, weshalb dann nicht über jene Entwicklungen, die sich abseits des Mainstreams vollziehen – etwa im Internet? Andernfalls läuft die Provokation eines so heftig mit Popappeal winkenden Titels wie „Goodbye Subkultur, hello Erfolgskultur“ doch ins Leere.

Tatsächlich war dann am dritten Kongresstag keine Rede von heutigen Netzwerken und ihrem immer wieder zu beobachtenden plötzlichen Einbrechen in die etablierte Öffentlichkeit. Stattdessen kam die fünfköpfige Diskussionsrunde auf die Beuys’sche „Besucherschule“ zu sprechen. Begriffe wie Subkultur, Avantgarde, Erfolgskultur gerieten wild durcheinander, wobei sich weder die New Yorker Künstlerin und Filmemacherin Sarah Morris noch der Dramatiker René Pollesch oder der Autor Benjamin von Stuckrad-Barre und am wenigsten der Filmemacher Neville Wakefield mit der vorgegebenen Terminologie identifizieren konnten. Beim Versuch Poschardts, der das Panel moderierte, die Runde auf den Konsens von „ein bisschen Résistance und ein bisschen Konversation“ zu reduzieren, erhob Pollesch heftige Einwände. Diese Haltung gegenüber der aktuellen Kunstproduktionen war ihm dann doch zu banal.