„Jede Nation hat Schreckliches getan“

Von der Grausamkeit des Eingeschlossenseins handelt das Stück „Avenir! Avenir!“ des iranischen Regisseurs Hamed Taheri, uraufgeführt in Stuttgart.Ein Gespräch mit Taheri und dem israelischen Komponisten Dror Feiler über die Zunahme von Grenzen und die irritierende Einsamkeit des Zuschauers

VON MARCO STAHLHUT

Das Stuttgarter „Weltfestival der Neuen Musik“, das die Internationale Gesellschaft für Neue Musik veranstaltet, steht unter dem Motto „Grenzenlos“. Gestern wurde die spektakulärste Arbeit des Festivals uraufgeführt: „Avenir! Avenir!“ von dem iranischen Theaterregisseur Hamed Taheri und dem aus Israel stammenden Komponisten Dror Feiler. Ihr Stück besteht aus 30 Fragmenten, die sich aus einer Theatersequenz und einem musikalischen Nachspiel zusammensetzen. Jedes Fragment kann jeweils nur ein Zuschauer sehen. Die Zusammenarbeit ging von den Künstlern aus. Hamed Taheri wurde vom Festival eingeladen und wählte Feiler als Komponisten.

taz: Herr Feiler, Herr Taheri, Sie haben gerade ein Fragment Ihres „Avenir! Avenir!“ für mich aufgeführt. Man geht als Zuschauer alleine durch ein enges Treppenhaus und wird mit harten, ja verstörenden Szenen konfrontiert. Mit Menschen, die bedrohliche Laute von sich geben. Mit Menschen, die die Kontrolle über ihre Blase verlieren. Die sich umbringen. Ein Charakter schreit immer wieder: „Schutzhaft“, „Schutzhaft“, „Schutzhaft“.

Hamed Taheri: Mein Konzept geht auf eine These von Hannah Arendt zurück, laut der wir alle in Lagern leben. Jeder ist Immigrant.

Ich hatte den Eindruck, es ginge spezifischer um traumatische Erfahrungen, vielleicht um erzwungene Auswanderung, um Gewalt gegen Flüchtlinge …

Hamed Taheri: Die Geschichte ist die: Wenn der Zuschauer hier dieses Treppenhaus hochgeht, kommt er an einer ganzen Reihe von Türen vorbei, aber die Personen, denen er begegnet, leben auf den Treppen. Alles, was passiert, passiert auf den Treppen. Die Leute können nicht raus, sie haben kein Zimmer, sie sind im Treppenhaus gefangen und können nur zwei Toiletten benutzen. Für mich stellt das Stück die Geschichte der Menschen dar, die gewissermaßen auf den Treppen leben. Und es ist klar, dass es grausam ist, auf den Treppen zu leben. Dass es voller Gewalt ist. Die Schauspieler bewegen sich die ganze Zeit in diesem schmalen Treppenhaus, das wie ein unendliches Labyrinth erscheint. Es ist, als würden die Schauspieler von den Wänden zusammengepresst.

Dror Feiler: Natürlich können Sie das politisch interpretieren.

Haben die politischen Ereignisse dieser Tage, das reale Drama im Nahen Osten, direkt in Ihre Arbeit hineingespielt?

Hamed Taheri: Nicht so unmittelbar. Ich habe ja schon vor einem Jahr begonnen, mit den Darstellern an diesem Projekt zu arbeiten.

Einer von Ihnen ist Iraner. Der andere hat einen israelisch-jüdischen Hintergrund, auch wenn er in Schweden lebt.

Hamed Taheri: Das stimmt. Meine Meinung dazu ist: Wir können miteinander reden, wir können uns verstehen, wenn wir akzeptieren, dass jede Nation in der Geschichte schreckliche Dinge begangen hat. Um es mit Jean-Paul Sartre zu sagen: Wir alle sollten akzeptieren, dass unsere Hände blutig sind. Wenn du aus Israel kommst, sind deine Hände blutig. Wenn du aus dem Iran kommst, sind deine Hände blutig. Jeder Nation ist ihr Versagen eingeschrieben …

Dror Feiler: … sogar, wenn du aus Schweden kommst, sind deine Hände blutig. Die Schweden verkaufen Waffen überall in der Welt.

Hamed Taheri: Allerdings möchte ich nicht, dass dieser Aspekt unserer Arbeit die künstlerische Bedeutung des Projekts ausradiert.

Dror Feiler: Für mich war das eine fantastische Erfahrung. Wir haben einen ganz unterschiedlichen Hintergrund. Ich bin viel älter als Hamed, mehr als zwanzig Jahre. Aber wir denken ähnlich, wir haben sogar die gleichen Bücher gelesen. Man könnte beinah sagen, ich habe einen neuen Bruder gefunden. Trotzdem ist das, was Hamed gerade gesagt hat, wichtig. Wir arbeiten letztlich nicht auf einer nationalen oder religiösen Ebene zusammen. Mich interessiert, dass ich mit jemandem ein Werk schaffen kann, das mit dem Konformismus bricht. Das ist für mich das Ziel von Kunst.

Und daher, denke ich, ist es auch wichtig, dass es jeweils nur eine Person ist, die sich unsere Arbeit ansieht und anhört. Dass jeder ganz alleine diese Treppe hochgeht und mit diesen Szenen konfrontiert wird. Er kann diese Erfahrung mit niemandem teilen, er kann keine Begleitung neben sich kurz ansehen, etwas zu ihr sagen. Jeder muss sich damit ganz alleine auseinander setzen.

Am Ende gelangt der Zuschauer in einen Raum, in dem er oder sie, immer noch alleine, mehreren Musikern gegenübersitzt, die verstörend laute, beinah monotone Musik machen.

Hamed Taheri: Zuletzt der Raum – ich sollte das eigentlich nicht sagen, denn das gibt eine Art Vorbegriff von der Arbeit, und der Zuschauer soll sie ja erleben – aber im letzten Raum öffnet jemand dem Zuschauer die Tür und sagt: „Willkommen im Paradies.“ Und nach all der Gewalt, nach all den Grausamkeiten ist das wie eine Hoffnung. Aber zur selben Zeit, mit der Musik von Dror, wird diese einfache Hoffnung natürlich enttäuscht.

Dror Feiler: Dieses Festival hat das Motto „Grenzenlos“. Eigentlich herrscht in der Welt, in der wir leben, zwar Globalisierung, trotzdem gibt es immer mehr Grenzen. Das ist das Paradox. Meine Musik muss so klingen wie sie klingt, weil ich möchte, dass Leute auf neue Weise hören, weil ich glaube, dass, wenn man es wagt, seine Hörschablonen zu zerbrechen, seine Schablone, Kunst wahrzunehmen, dann wagt man es auch, anders zu denken, anders zu fühlen, anders zu handeln. Und das ist unsere einzige Hoffnung.

Das Gespräch wurde auf Englisch geführt, Übersetzung: Marco Stahlhut. „Avenir! Avenir!“ läuft bis zum 23. Juli täglich auf dem Gelände des Klett Verlags Stuttgart, Anmeldung erforderlich unter (07 11) 62 905 12. Infos unter www.wnmf2006.de