herr tietz macht einen weiten einwurf
: Im Angesicht des Todes

FRITZ TIETZ ist sich sicher: Nach Ablauf seines irdischen Daseins wird er einiges, aber bestimmt nicht den Fußball vermissen

Wann wird’s mal wieder richtig Sommer? Der holländische Nuschelbarde Rudi Carrell war’s, der einst diese Frage ins deutsche Liedgut erhob. Tatsächlich gingen seitdem etliche Junis, Julis und Augusts ins Land, in denen es angebracht war, Carrells Quengelsong zu spielen. Derzeit aber herrscht ein Sommer in Deutschland, wie er richtiger kaum sein kann. Doch ausgerechnet Carrell blieb es unvergönnt, dieses meterologische Ereignis bei voller Gesundheit zu genießen, geschweige denn zu besingen. Noch während die Sonne im höchstsommerlichen Zenit stand, musste der verdiente Hechelscherzer abtreten. Auch das Ende der Fußball-WM hat Carrell nicht mehr erlebt. Dabei hatten sich er und seine Frau so sehr gewünscht, wenigstens noch das Endspiel gemeinsam anschauen zu können.

Als ich von diesem unerfüllten letzten Willen der Carrells erfuhr, fiel mir Hanns-Joachim Friedrichs ein. Der 1995 verstorbene Topjournalist hatte unmittelbar vor seinem Tod ausdrücklich bedauert, dass es ihm nun nicht mehr möglich sei, die nächste Fußball-Europameisterschaft zu sehen. Dieses Bekenntnis brannte sich mir damals ein – wohl auch deshalb, weil es mich so irritierte. Wie einem im Angesicht des Todes etwas vergleichsweise Banales wie ein Fußballturnier in den Sinn kommen konnte? Ich gebe zu: Wenn es eine Wasserball-EM, eine Weltmeisterschaft im Degenfechten oder gar ein Golfturnier gewesen wäre, das der Todgeweihte gerne noch geguckt hätte, wäre mir das sicher noch seltsamer erschienen.

Nun lag ich noch auf keinem Sterbebette – und doch bin ich mir sicher: Weder eine Fußball-EM noch ein WM-Finale zählten in meinem sich ankündigenden Todesfall zu den besonders schmerzlich vermissten irdischen Dingen. Letzteres kann ich sogar glaubhaft belegen, insofern ich mir das erst kürzlich vollzogene WM-Endspiel bei noch voller Quietschlebendigkeit nicht angeschaut habe, und zwar ohne dass mich nachher Reue oder sonst was quälte. Gequält worden war ich schließlich bei dieser WM zuvor schon genug: durch dieses Mittelfeldgeschiebe nämlich und ein überwiegend fades Taktikgetue, das einem dann auch noch ein dentalkosmetisch und auch sonst ziemlich überzahnt wirkender Zwangssympath mittels einiger auf den Bildschirm gekritzelter Striche und Kringel als spannende Sache zu verkaufen versuchte.

Nein, ich fand es weitaus angenehmer, diesen sanft temperierten Sommerabend in Gesellschaft des Dichters und Langstreckenradlers Horst Tomayer in einer Hamburger Schänke zu verbringen, wo wir uns bei einem gepflegten Umtrunk über so daseinszentrale Themen wie „Basis/Überbau“, „Sexualität in free style und Ehe“ sowie „das verflixte Geld“ aussprachen, so Tomayer in einer mir anderntags übermittelten Nachlese. Ich aber teilte ihm umgehend mit: Wenn mir dereinst mal das Todesglöckchen bimmelt, wird es diese, unsere gebenedeite Zusammenkunft vom 9. Juli 2006 sein, deren Unwiederholbarkeit ich laut bejammern werde. Auf keinen Fall aber eine wie, wo und wann auch immer verpasste E- oder WM.

Auch wenn es tatsächlich zutreffen sollte, dass man im Moment des Todes noch einmal sein Leben in einer Art Zeitrafferfilm am geistigen Auge vorbeiziehen sieht, möchte ich schon mal vorsorglich beantragen, aus meinem Film sämtliche Fußballszenen zu tilgen; ausgenommen vielleicht jenen Traumpass, den ich vor Jahren bei einem Hallenfußballturnier diagonal übers gesamte Spielfeld und so genial auf meinen Mitspieler schlug, dass der diesen Zuckerball nur noch volley versenken musste. Das würde ich in der Tat gerne noch mal sehen. Auch in Zeitlupe. Und wenn’s unbedingt sein muss, dann auch gerne sterben.