Lächerlich ist besser

Das Alter, die Angst vor dem Alter, die Altersweisheit und das störrische Sichsträuben gegen die Altersweisheit, die Liebe, der Sex, die Ehe, das Geld und noch vieles, vieles mehr: Martin Walsers ausschweifend irrlichtender neuer Roman „Angstblüte“

Rudi Rudij sagt:„Das Leben zieht, wenn es für die Kunst gebraucht wird, immer den Kürzeren“

von GERRIT BARTELS

Einen echten Höhepunkt gibt es – dramaturgisch korrekt – ziemlich genau in der Mitte dieses neuen Romans von Martin Walser. Nach einer enttäuschenden Nacht klappt es schließlich morgens doch noch zwischen dem 71-jährigen Karl von Kahn und seiner fast vierzig Jahre jüngeren Geliebten Joni Jetter, woraufhin beide ihren Akt mit eindeutigen Worten begleiten: „Bist du nichts als eine geile Fotze.“– „Ich bin nichts als eine geile Fotze.“ – „Soll der Schwanz dir die Fotze vollspritzen.“ – „Der Schwanz soll mir die Fotze vollspritzen“, und so weiter und so explizit.

Sprachlich ist dieser Höhepunkt in Walsers Roman „Angstblüte“ eher ein Tiefpunkt, ein bewusst gesetzter; auch von Erotik kann natürlich keine Rede sein, schon gar nicht einer vermittelten. Doch darum geht es Martin Walser ja auch nicht. Ihm geht es um das Protzen mit der Vitalität und darum, wie lächerlich das sein kann, um den Beweis, dass Sex kein Alter kennt und trotzdem eher ein Witz ist. Er will zeigen, dass ein alter, von der Angst vor dem Alter getriebener Mann wie sein Romanheld Karl von Kahn vor keiner Peinlichkeit zurückscheut, und dafür darf sich auch der Schriftsteller Walser keine Blöße geben, da muss er schon mal pornografisch ranklotzen.

Das kann man jetzt, mit ausreichend Verständnis für Walsers Motivation, mutig finden oder schonungslos oder gar „wild“, wie es der Verlag im Klappentext tut; das verliert am Ende allen Verständnisses trotzdem nicht ganz den schlechten Geschmack schwitziger, sabbernder Altmännerfantasie. Das schwerwiegendere Problem aber ist, dass man im Verlauf des fast fünfhundert Seiten fassenden Romans nur unzureichend dafür entschädigt wird. Walser verfährt in „Angstblüte“ nach der Devise: Alles reinwerfen, am Ende kommt schon was heraus. Das Alter, die Angst vor dem Alter, die Altersweisheit und die Altersabgeklärtheit und das störrische Sichsträuben gegen die Altersweisheit und die Altersabgeklärtheit, die Ehe und die Eheproblematik, der Sex (viel) und die Liebe (wenig), und, ja, auch wieder Deutschland und seine Vergangenheit, das aber nur ein kleines bisschen. Die typischen Walser-Themen also in einem typisch handlungsarmen Walser-Roman, dessen ganze Erzähldramaturgie darin besteht, dass Karl von Kahn zweimal schwer getäuscht wird. Zuerst von einem Freund, was für den weiteren Verlauf des Romans nur wenig Bedeutung hat, außer als Steigbügel für ein paar Gedanken zur Freundschaft; das zweite Mal von Joni Jetter, die sich mit ihm nur einlässt, damit er einen Film mit ihr in der Hauptrolle finanziert, Arbeitstitel „Das Othello-Projekt“. Der Rest, besonders der dritte und letzte Teil des Romans, ist ein Nummernprogramm, inklusive des Filmdrehbuchs, einem weiteren Romantiefpunkt.

Darüber hinaus begibt sich Walser in „Angstblüte“ mit Verve in die Welt der Finanzjongleure und Spekulanten: Karl von Kahn hat sich, nach jahrzehntelanger Tätigkeit für eine Bank, selbstständig gemacht und versucht für seine wenigen, aber ausgesuchten Kunden und natürlich für sich, Geld anzuhäufen, wo es nur geht. Wie beim Thema Sex, hinter dem immer die Fratze des Alters lugt, sei es nun das hässliche Venengerinnsel am linken Bein, sei es das doch nicht so leichte „bergauf beschleunigen“, das schon mal beim Notarzt endet, so hat auch das Thema Wirtschaft und Geld seinen Widerpart, den es in die Schranken zu weisen gilt: die Kultur, den Kulturbetrieb. Karl von Kahn ist ein leidenschaftlicher Geldvermehrer, für den der Zins und der Zinseszins die Kultur und der Geist sind: „Der Zins ist die Vergeistigung des Geldes. Wenn der Zins dann wieder verzinst wird, wenn also der Zinseszins erlebt wird, steigert sich die Vergeistigung ins Musikmäßige […]. Wenn wir aber den Zinseszins-Zins erleben, erleben wir Religion. Der Wirklichkeitsgrad, Vergeistigungsgrad des Zinseszins-Effekts macht die Zahl zum Religionstext. Und der drückt sich aus in der Zahl. Spürbar wird Gott.“

Solche Sachen sagt Karl von Kahn umso lieber, umso einsamer er ist (Geld als Liebesersatz!) und umso mehr Leute von Geist und Kultur um ihn herum sind: Schöngeister, schöne, junge Frauen, Angehörige der „Kulturfraktion“, die am liebsten weghören, wenn von Geld und schwierigen finanziellen Transaktionen die Rede ist. So wie von Kahns Ehefrau Helen, die von Beruf Eheretterin und Eheberaterin ist; so wie von Kahns vermeintlich bester Freund Lambert Trautwein, genannt Diego, der zwar selbst ein ordentlicher Geldsack ist, dieses aber unverzüglich in die schönen Dinge des Lebens investiert, in „die Schönheit“: in Antiquitäten, Bilder, Loire-Schlösser oder auch seine Frau Gundi Podolny, eine Fernsehtalkshowmoderatorin (genau: „Angstblüte“ ist in Häppchen auch Mediensatire!); und so wie eben Joni Jetter, von Kahns Kurzzeitgeliebte, die mittelmäßige, erfolglose Schauspielerin, die gern Lyrikerin oder wenigstens „Psalmistin“ wäre.

Leider ist Karl von Kahns menschliche Umgebung eine obskur-eigenartige, wenn nicht gar zutiefst lachhafte: Helen mit ihrem Eherettungssyndrom, Gundi mit ihren Berufsfernsehmacken, Joni mit ihrem verkorksten Sex- und Berufsleben, die seltsamen Kunden von Karl von Kahn. Nicht selten hat man das Gefühl, dass Walser sie auf den Arm und alles andere als ernst nimmt, dass er es damit sich selbst leicht und seinen Lesern schwer macht. Allein die Namen seiner Figuren verweisen auf Heiterkeitsausbrüche beim Schreiben und darauf, dass hier eher Knallchargen als lebendige Figuren agieren: Amadeus Stengl, Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel, Leonie von Bollwitzen, Marcus Luzius Babenberg, Joni Jetter (Joan Jett?), Erewein von Kahn, Karls Bruder (auch tragisch-lächerlich).

Und mitten drin Karl von Kahn, der naturgemäß als Hauptfigur und Walser-Alter-Ego der Einzige ist, dessen Innenleben in allen Schattierungen ausgepinselt wird, sein Starrsinn, seine Borniertheit und seine Rechthabereien, sein Scharfsinn, sein Reflexionsvermögen. Walser zeigt ihn aber eben genauso gern in all seiner Lächerlichkeit, die in nächtlichen Anrufen bei Joni nach der ersten gemeinsamen Nacht und den Überlegungen, ihren vorherigen Liebhabern auf den Zahn zu fühlen, weitere Höhepunkte findet. Um Karl von Kahn auszuleuchten, betreibt Walser viel Aufwand: Das geht von schlau-selbstreflexiven Höhenflügen bis in die plattesten Tiefen und verliert sich bisweilen in Sprachgeschwurbel und Wortgeklingel. Karl von Kahns Charakter bekommt da fast gezielte Unschärfen, so sehr dreht von Kahn sich in sich, um sich und wieder herum, so sehr ist er alt und doch nicht alt, ist er einsam und doch unten mit sich, ist er Liebesbedürftiger und Geldhai.

Insofern muss man Acht geben, die wirklich großen Momente (ja, die gibt es!) nicht zu verpassen, die wahren, hell leuchtenden Sätze, die Karl von Kahn oder auch mal eine der Nebenfiguren spricht. Etwa wenn von Kahn in einem seiner Einsamkeitsanfälle sagt: „Es ist nicht so schlimm, wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann. Wieviel Vermeidenswertes wird da vermieden.“ Oder er über Freundschaften räsonniert: „Je länger eine Freundschaft besteht, desto weniger Anlass hat sie. Es ist, als verbrauche sich der Freundschaftsstoff im Lauf der Zeit. […] Zwei Freunde, die einander nicht mehr sagen können, daß sie keine mehr sind, das ist sowohl das Gewöhnlichste wie das Schlimmste.“ Oder wenn Rudi Rudij (sic!), einer von den Filmleuten, von Kahn erklärt, wie sich Leben und Kunst zueinander verhalten: „Das Leben zieht, wenn es für die Kunst gebraucht wird, immer den Kürzeren. Die Kunst macht, was ihr das Leben liefert, kaputt. Das ist die Verselbständigung der Kunst auf Kosten des Lebens.“

Das sind tolle Sätze. Essays über das Alter, die Freundschaft und die Kunst ließen sich damit glänzend bestreiten. Nur kann Walser sich nicht entscheiden, wie er Leben und Kunst austarieren soll. Das Leben ist „Angstblüte“ irgendwie nicht so richtig, dafür ist Walser zu sehr auf seinem kunstvollen Verarschungstrip; die Kunst aber auch nicht, denn die muss in Form von Film-im-Film-Drehbüchern, kolportagehaften Sexdialogen und anderen Abgeschmacktheiten immer wieder vorgeführt werden.

Am Ende sehen wir einen Karl von Kahn, der von den Frauen verlassen worden ist, aber weiter tapfer-irrig durch sein Leben stromert und seiner Ehefrau noch einen Brief in der dritten Person schreibt. Den kann man, gefiltert wieder einmal aus vielen, diesen Roman kennzeichnenden Überflüssigkeiten, auf diesen einen Nenner bringen: „Daß er der Idiot der Saison ist, bitte. Ihn krönt die Lächerlichkeit. Bitte. Alles im Dienst der gewöhnlichen Verzweiflungsvermeidung. Bitte.“ Und wenn er nicht gestorben ist, lebt er noch heute. Bitte.

Martin Walser: „Angstblüte“. Rowohlt, Reinbek 2006, 478 S., 22,90 €