Politisches Manifest

Richard Rorty und Gianni Vattimo diskutieren erst postmodern den Katholizismus und greifen dann die katholische Kirche massiv an

VON MICHA BRUMLIK

Üblicherweise bedienen sich Menschen der Philosophie, um religiösen Fundamentalismus zu widerlegen. Manche freilich versuchen es umgekehrt. Sie bedienen sich der religiösen Rede, um eine weitaus harmlosere Art des Fundamentalismus zu bekämpfen: den philosophischen Fundamentalismus, der meint, Erkenntnisse und Überzeugungen „objektiv“ begründen zu können.

Darüber lässt sich vorzüglich gebildet streiten. Deshalb hat schon vor mehreren Jahren ein Dozent der Vatikan-Universität, Santiago Zambala, den amerikanischen Philosophen Richard Rorty und den Propagator eines „schwachen Denkens“, Gianni Vattimo, eingeladen – und nun daraus ein schmales Bändchen gemacht.

Die Argumentation – nein, das bildende Gespräch – verläuft ungefähr so: Wenn erstens nach Maßgabe postmoderner Philosophie gezeigt ist, dass Wissenschaft und Philosophie ohnehin keine wahrheitsverbindlichen Erkenntnisse aufweisen können, schrumpft zweitens der Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion gegen null, sodass man drittens guten Gewissens auch glauben darf. So weit Richard Rorty. An diesem Punkt springt Gianni Vattimo mit seinem Verständnis des christlichen Glaubens ein. Er deutet viertens den Kreuzestod Jesu – also den Karfreitag – als jenes Ereignis, das einen absolutistischen, ontotheologischen Gottes- und Wahrheitsbegriff zu Ende gebracht habe; der Leser versteht: Der allmächtige Gott wird zum hinfälligen, sterblichen und auch wirklich getöteten Menschen; aus Wahrheit wird unwiderruflich Meinung.

Gibt es jedoch keinen jenseitigen Gott und keine absolute Wahrheit mehr, so bleibt der Menschheit nichts anderes übrig, als sich in ihre radikale Geschichtlichkeit zu fügen. In dieser Situation lässt sich wieder atheistisch an Gott glauben. Richard Rorty tut das so, wie es die amerikanische Linke seit dem 19. Jahrhundert immer tat: in Form des Vertrauens auf Solidarität und Nächstenliebe – um 1899 bezeichnete man das als „social gospel“.

Demgegenüber bekennt Vattimo, dass er ohne seinen christlichen Glauben weiterhin – horribile dictu – philosophischer Fundamentalist geblieben wäre. Was bleibt als Inhalt dieses Glaubens? Rorty spricht es mit der ihm eigenen Deutlichkeit aus: Indem er für sich selbst eine unbegründete Hoffnung postuliert, schreibt er Vattimo eine unbegründete Dankbarkeit zu.

Sieht man von den mehr oder minder überzeugenden Argumenten ab, erweist sich das Gespräch zwischen Rorty, Vattimo und Zambala als ein nicht eben harmloses politisches Manifest. Während die Diskutanten in der Überzeugung, dass es keine verbindlichen Normen geben könne, die katholische Sexualethik scharf attackieren und entschieden eine Privatisierung, also Amerikanisierung, der Religion einklagen, plädieren sie mit dem weitgehend vergessenen italienischen Philosophen Benedetto Croce für die Anerkennung Europas als christlicher Kulturraum.

Rorty und Vattimo schätzen dieses Europa seiner verbliebenen Sozialstaatlichkeit und seiner sexualpolitischen Liberalität wegen und sind daher sogar bereit, ihr philosophisches Glaubensbekenntnis an das allseitige Gespräch der Kulturen preiszugeben. Rorty erteilt allen Anstrengungen, mit dem Islam in einen Dialog zu treten, eine schroffe Abfuhr: „… mir erscheint die Vorstellung eines Dialogs mit dem Islam gegenstandslos. […] Der Vatikan hatte bis zum 18. Jahrhundert seine ureigenen Interessen im Sinn, so wie die Mullahs die ihren. Mit etwas Glück wird die gebildete Mittelklasse in den islamischen Ländern eine islamische Aufklärung herbeiführen, aber diese Aufklärung wird kaum nennenswert mit einem ‚Dialog‘ zu tun haben.“

An zentraler Stelle wenden sich Rorty und Vattimo gegen den damals noch lebenden Johannes Paul II. sowie dessen Angriffe auf den moralischen Relativismus und treten für die Ordination von Frauen, das Erlauben von Kondomen und die Anerkennung homosexueller Partnerschaften ein.

Am Ende entpuppt sich die auf den ersten Blick unscheinbare Fingerübung der beiden Autoren in postmoderner Religionsphilosophie als massiver Angriff auf die katholische Kirche. Bedenkt man endlich, dass der gegenwärtige Papst Benedikt XVI. Christentum vor allem als Hülle einer absoluten philosophischen Wahrheit versteht, wird man die Brisanz dieser Attacke nicht unterschätzen.

Richard Rorty, Gianni Vattimo: „Die Zukunft der Religion“. Aus dem Amerikanischen von Michael Adrian. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 114 Seiten, 16,80 Euro