Lauter Wirtshauswunder

Wo man die Welt mit „Allegra“ begrüßt: Im Dreiländereck Österreich-Italien-Schweiz beginnt heute das 8. Musikfestival Xong. Dessen Ziel: Grenzen überspringen

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Wer sich jemals an einem eher trüben Tag mit dem Auto von Landeck aus durch Finstermünz, das schmale österreichische Inntal, zum Reschenpass hochgequält hat, um nach Italien oder in die Schweiz weiterzufahren, wird vielleicht das seltsame Glücksgefühl nachvollziehen können, das mich jedes Jahr aufs Neue packt. Aus dem Dunklen aufzutauchen und ans Licht kommen, aus der Enge in die Weite gelangen – es hat tatsächlich etwas von Geborenwerden. Zumindest meint man zu verstehen, wie es den nach neuen Siedlungsplätzen suchenden Völkerwanderern vergangener Jahrhunderte gegangen sein muss. Das „rätische Dreieck“, die Region, die den italienischen Vinschgau, das österreichische „Obere Gericht“ und die beiden schweizerischen Täler Unterengadin und Münstertal umfasst, beweist schon landschaftlich seine Vielfalt. Oben auf dem Pass, der Grenze zwischen Österreich und Italien, öffnet sich breit das Tal, der Blick schweift über den magisch grünen See mit dem berühmten aus dem Wasser ragenden Kirchturm zum schneebedeckten Ortlermassiv, und nicht selten entschließt sich an diesem geografischen Übergang auch das Wetter zu größerer Freundlichkeit.

Fährt man in Richtung Meran weiter, gerät man in eine immer grüner, wärmer, italienischer werdende Landschaft mit Weinbergen und Obstgärten; wählt man den Weg ins Münstertal, ist man plötzlich in der ganz eigenen Welt des „Romansch“, und in den hoch gelegenen Dörfern des benachbarten Engadin wird man mit einem heiter stimmenden „Allegra!“ begrüßt. Wer etwas über kulturelle Differenzen und ihre alltägliche Bedeutung erfahren will, der sollte hierher kommen. Und zwar am besten gleich. Denn jeden Juli findet in der Region etwas statt, was mich Jahr für Jahr hierher zieht: „Xong“, Europas schönstes Musik- und Kulturfestival. Das Festival, das sich um Grenzen und Nachbarschaft, Fremdheit und Ähnlichkeit, Nähe und Distanz dreht. Und um den Versuch, aus den gegebenen Differenzen so etwas wie eine gemeinsame musikalische Sprache zu entwickeln. Xong ist ein Projekt von exemplarischer europäischer Bedeutung. Denn bei den geläufigen Beschwörungsformeln vom „Zusammenwachsen“ der Länder und Regionen wird leicht vergessen, dass Nachbarschaft meist etwas Problematisches ist: Nachbarn pflegen sich in aller Regel eher zu hassen als zu lieben, zwischen Nachbarn werden die erbittertsten Streitigkeiten ausgetragen.

Vom Konflikt um den Maschendrahtzaun bis zur ethnischen Säuberung: Nirgendwo ist ein größeres Konfliktpotenzial im Spiel als bei jenen, die sich zugleich nah und fern sind, sich als fremd und doch ähnlich erfahren. Freud sprach vom „Narzissmus der kleinen Differenzen“. Einiges spricht dafür, dass dieser Nachbarschaftsnarzissmus ein ebenso schwer wiegendes Hindernis beim Zusammenwachsen Europas bildet wie die Kluft zwischen völlig unterschiedlichen Kulturen.

Die kleinen Differenzen – an wenigen Orten Europas sind sie so handgreiflich erfahrbar wie hier im rätischen Dreieck. Alltäglich sieht, riecht und schmeckt man sie; und, vor allem, man hört sie: seit sieben Jahren nicht nur im Sprachgemisch der verschiedenen Idiome und Dialekte, sondern auch im je eigenen musikalischen Klang. Denn seit sieben Jahren lässt Xong für eine Woche das Dreiländereck nach den Gesetzen der musikalischen Harmonielehre zu einer grenzüberschreitenden Region werden. Eine Woche, in der man sich darin übt, ein allgemein verständliches Idiom zu schaffen. Das seine Wurzeln in dem hat, was man hier seit Jahrhunderten an Klängen produziert. Volksmusik also? Schreck, lass nach! Musikantenstadl? Nein, eben nicht. Bei Xong wird Volksmusik neu definiert. Das ganze Programm ist darauf angelegt, unterschiedliche musikalische Traditionen zusammenzubringen, sie gegeneinander laufen und sich mischen zu lassen, um sich neu zu erfinden. Xong ist Mischung, in jeder Hinsicht: Konzerte zwischen Schloss und Scheune, Profimusiker, die zusammen mit Workshop- Lehrlingen aufspielen, theatralische und gastronomische Cross-overs unterschiedlichster Couleur. Aber im Zentrum immer die musikalische Suche nach einer gemeinsamen Sprache. Die ihren urtümlichen Dialekt nicht verleugnet, woher immer er stammen mag.

Zum Beispiel das österreichische Bläserseptett Mnozil Brass, seit Jahren ein Herzstück des Festivals und seit dem in Bochum uraufgeführten „Trojanischen Boot“, der „ersten Operette des 21. Jahrhunderts“, auch in Deutschland Stars. Volksmusiker? Keiner der sieben hätte Schwierigkeiten, zu nicken. Ihre Programme sind kleine Meisterwerke konzertanter Slapsticks, in denen sich feine Ironie und deftiger Scherz auf höchstem musikalischem Niveau die Waage halten. Mnozil Brass’ „Volksmusik“ ist eine witzig-tragikomische musikalische Synthese, die mit der Verwandlung des Ländlichen im urbanen Milieu zugleich die untergründige Sprengkraft des Provinziellen gegen den kulturindustriellen Kommerz ins Spiel bringt. Die Musiker, ursprünglich allesamt „aus der Provinz“ und bei etablierten klassischen Ensembles unter Vertrag, haben mit dieser formidablen Mixtur solchen Erfolg, dass sie 120 Konzerte pro Jahr geben, rund um die Welt. Selbst in ganz fremden Kulturen kommt ihr anarchistischer musikalischer Witz an. Bei Xong sind sie mit ihrer Lust am Improvisieren und dem Zusammenspiel mit anderen ein Motor der musikalischen Mischung.

Tatsächlich, die Mischung, die Xong vorführt, ist das, was Europa einmal werden könnte – wenn wir Glück haben. Mischung, Melange, Miscela: das ist nicht die Aufhebung der Differenz, sondern ihre Anerkennung im Medium des Anderen, manchmal mit der überraschenden Entdeckung des Ähnlichen. Nicht melting pot, sondern salad bowl, keine falsche Multikultiromantik, sondern die Klangfarbe, die entsteht, wenn sich verschiedene Töne zu einem Akkord finden. Auf der Basis von Improvisation.

Deshalb liegt das dynamische Zentrum des Festivals auch nicht im Konzertsaal, sondern an der vermeintlichen Peripherie: in den Wirtshäusern. Allabendlich spielen die verschiedenen Gruppen in den Gaststuben der Region auf, wandern von da nach dort, treffen sich, lösen sich im Spiel ab oder bilden neue, die Musiker selbst überraschende Improvisationsgemeinschaften. Plötzlich verflechten sich melancholische belgische Geigentöne mit schrillem Pfeifensound aus dem Apennin, sanfter Engadiner Alpenblues mit Posaunenriffs, ehrwürdige diatonische Akkordeons mutieren zu Jazzinstrumenten, aus alten Volksweisen entstehen im improvisierten Zusammenspiel überraschende Festivalhymnen, die man noch nach Tagen vor sich hin pfeift, ohne es zu merken. In den Wirtshäusern entsteht sie: die Mischung, das Unvorhergesehene, das Wunder der musikalischen Synthese.

Die Wirtshausmusik ist die Hefe von Xong, und die Musiker, die allabendlich das Wirtshaus zum polyphonen Sprachlabor machen, sind die Seele des Festivals. Zum Beispiel die Saitnswinger, eine in jeder Hinsicht „unmögliche Mischung“: zwei Harfen, zwei Geigen, ein Kontrabass; vier Frauen und ein Mann. Was sie verbindet: hohe musikalische Qualität, ein Faible für Volksmusik, schräge Klänge und ein Musikstudium in Wien. „Richtige“ Wienerin ist freilich nur die (erst unglaubliche 17 Jahre alte) zweite Geigerin. Die virtuose erste Violine gehört dem einzigen Mann der Truppe, Wang, mit 12 Jahren aus Taiwan nach Wien gekommen: „das Wangerl“, wie ihn seine damaligen Klassenkameraden nannten. Die fulminante Bassistin stammt aus Bulgarien, die beiden oberösterreichischen Harfenistinnen, die seit zehn Jahren zusammen musizieren, bilden das Herz des Quintetts. Die Saitnswinger spielen und singen Schleinige genauso hinreißend schwungvoll wie taiwanische Lieder oder ein bulgarisches Hochzeitsstück. Dies alles eingepackt in abgründigen Humor und beflügelt durch einen unverkennbar von Strauß-Vater, Strauß-Sohn und Strauß-Heiligem-Geist inspirierten Drive, der das alte k. u. k. Reich wie die Utopie eines neuen Mitteleuropa wiederauferstehen lässt.

Mit manchmal unerwarteten Folgen für das Programm: Sie hätten ja so wunderbare Musik aus ihrer Heimat gespielt, sagt die ungarische Saisonserviererin im italienischen Gasthaus, da wolle sie doch auch einmal in ihrer Muttersprache singen. Prompt fusionieren die Bedienung und das Quintett für 30 Takte zu einer ungarischen Volksliedrhapsodie – und das Publikum besteht plötzlich nicht mehr aus Deutschen, Italienern, Österreichern und Schweizern, sondern aus begeistert applaudierenden Europäern. Das sind die Momente, in denen greifbar, hörbar, fühlbar wird, was Europa bedeuten könnte. Tatsächlich, das Zusammenwachsen zu einem europäischen Kulturraum beginnt hier, in den Wirtshäusern. Wer hätte das gedacht?

Der Gesang, meinte Yehudi Menuhin, sei die eigentliche gemeinsame Ursprache der Menschen. Die Kunst der Xong-Organisatoren um den Spiritus Rector des Festivals, Konrad Messner, besteht darin, immer wieder neue Möglichkeiten zu schaffen, sich einer solchen Ursprache anzunähern. Durch das Ausmessen von Differenzen, das Ausprobieren von Neuem im Alten, die Wahrnehmung „des Anderen“. Messner hat immenses Geschick darin, Orte und Situationen für Konfrontationen und Synthesen zu schaffen. Eine usbekische Sängerin im Vinschgauer Benediktinerkloster Marienberg, ein georgischer Männerchor in der Klosterkirche von Müstair. Dabei geht es beim Festival nicht um vordergründige Exotik oder gar um gewollt grelle Kontraste.

Diese kulturellen Konfrontationen schaffen Momente des Mementos, schaffen, um mit der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners zu reden, Orte der „exzentrischen Position“, von denen aus sich mithilfe des Fremden das Eigene anders wahrnehmen lässt. Messner wacht mit seiner Crew sorgsam darüber, dass die Veranstaltung mit der wachsenden internationalen Beteiligung und dem messbaren Erfolg nicht ihre Mitte verliert: die Region als Ort des Zusammenwachsens. Xong möchte kein Publikum anlocken, das kommt, zahlt, staunt und wieder fährt. Hier spielt die Musik, hier ist und bleibt der Mittelpunkt des Austauschs, der mehr und mehr auch im Alltag fruchtbar wird.

Der auswärtige Besucher von Xong spürt wohl, wie freundlich er hier aufgenommen ist – und eingeladen, wiederzukommen. Aber er spürt auch, dass die entscheidenden Kraftlinien zwischen Etsch und Inn verlaufen: in der grenzübergreifenden Nachbarschaft der Täler und der Menschen, die sich seit Ewigkeiten so nah sind und doch ihre Ähnlichkeit erst zu entdecken beginnen. Man spürt, dass hier etwas Jahrhundertealtes neu ausgetragen wird. Etwas, was nach einem neuen Ausdruck, einer neuen Sprache sucht. Die in den Wirtshäusern musikalisch vorbereitet wird.

Viele aus dem „Oberen Gericht“ hätten sich früher im Engadin verdingen müssen, erzählt mir Wilfried Brandstötter von den Mnozil Brass. Daraus sei das wechselseitige Ressentiment entstanden, das sich aus ökonomischer Asymmetrie fast notwendig ergibt. Heute fahre man sich über die Grenze besuchen, manchmal mit ganzen Bussen. Man ist sich über Xong näher gekommen. Im Wirtshaus, mit der Musik. „Immerhin, ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt er. Ich widerspreche: „Es ist ein Anfang.“ Brandstötter grinst, trommelt mit den Fingern einen eleganten Wirbel auf den Wirtshaustisch – und nickt.

XONG findet von Sonntag, den 23. Juli, bis Samstag, den 29. Juli, im schweizerisch-österreichisch-italienischen Grenzgebiet statt. Programm und Infos unter www.xong.net. Zur Wirtshausmusik heißt es dort: „Man/frau muss sich gut umhören, um zu erfahren, wo die Musikanten grad spielen! So freuen sich die Einheimischen, und die Gäste dürfen Gäste sein.“ CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, ist Soziologe, Analytiker und Autor und lebt in Frankfurt