Mit der Sorgfalt einer Laborantin

Alles, bloß nicht der Versuch einer Unterwanderung: Kathrin Passig wollte einfach mal zum Spaß nach Klagenfurt, doch in ihrer Textproduktion steckt ein hoher literarischer Ernst. Eine Begegnung mit der diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis-Trägerin

Und über allem steht als heimlicher Spiritus Rector und geheime Blaupause der alte Meister Vladimir Nabokov

von DIRK KNIPPHALS

Die Autorin, die den deutschsprachigen Literaturbetrieb erst so erfreut und gleich danach so hochgradig irritiert hat, sitzt im Berliner Stadtteil Kreuzberg neben ihrem Büro in einem lauschigen Hinterhof und blinzelt in die Sonne. Es gibt Holunder-Bionade, und es gibt Fragen zu beantworten, mal wieder. Kathrin Passig hat in diesen Tagen viele solcher Termine. Die Nachbeben nach dem Gewinn des Bachmannpreises sind stark. Dieser Preis will verarbeitet und eingeordnet sein – es gibt Aspekte an ihm, die die eingeübten Dramaturgien sprengen: Porträtieren, Bachmannpreis-2006-Aufkleber auf die Bücher pappen, bald darauf die Autorin wieder halb vergessen – das alles funktioniert bei Kathrin Passig nicht recht. Zu schön ist ja allein schon die Geschichte von der Preisträgerin mit dem schmalsten literarischen Oeuvre aller Zeiten. Gerade mal eine einzige Erzählung hat die 36-Jährige geschrieben. Damit hat sie gleich in Klagenfurt gewonnen, und die Begeisterung über die Qualität dieses Textes hält an. Schon das ergibt Klärungsbedarf.

Und dann ist da auch noch die Sache mit der „Riesenmaschine“, dem Internetforum, und der „Zentralen Intelligenz-Agentur“, der Veranstaltungsagentur, die die Autorin mit anderen jungen Leuten in Berlin betreibt. Wer sich bei den zugehörigen Homepages im Internet durchklickt, wird auf eine Benutzeroberfläche stoßen, bei der man nicht immer so genau weiß, was nun augenzwinkernd gemeint ist und was ernsthaft sein soll. Da wird mit Geheimagentensemantik gespielt, drei Prozent Weltherrschaft attestiert sich die Zentrale-Intelligenz-Agentur gerade selbst in einem Balkendiagramm, und Kathrin Passig tritt bei alledem als Geschäftsführerin für den Bereich „Kulturtechniken und Sprache“ auf. Die Frage, die den Literaturbetrieb nun nach Klagenfurt 2006 umtreibt, ist, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt – die Literatur mit diesen spaßbereiten und ironiebegabten Elementen im Wirken der Kathrin Passig.

Die zugkräftigste Erklärung, die zuletzt in Kommentaren und Porträts angeboten wurde, war recht handfest: Kathrin Passig, so hieß es, habe mit ihren Mitstreitern Klagenfurt unterwandert, sogar von Subversion war die Rede. Die Autorin, die sowieso viel Willen ausstrahlt, bei aller Aufregung um sie einen kühlen Kopf zu bewahren, lacht hell auf. „Ich bin mir nicht sicher, ob irgend jemand das ernsthaft glaubt oder ob die Journalisten die Unterwanderungsidee nur benutzt haben, weil sie ja nicht in ihre Artikel reinschreiben können, dass eigentlich gar nichts war.“

Dann erzählt sie, wie es war. Dass sie 2005 mit einer Freundin erstmals in Klagenfurt war und es dort als überraschend unterhaltsam empfand. Dass sie sich daraufhin vornahm, im nächsten Jahr selbst an dem Wettbewerb teilzunehmen, und sie sich also eben hingesetzt hat, um eine Erzählung zu schreiben. Dass dann mit der erreichten Einladung eigentlich ihr Ziel erreicht gewesen sei. „Ich wollte da zum Spaß hin“, sagt Kathrin Passig ausdrücklich.

Außerdem scheint sich diese Autorin auf den Bachmannpreis noch nicht einmal groß was einzubilden: „Wenn man da verliert, ist das keine Aussage über den Text, und wenn man da gewinnt, auch nicht.“ Klagenfurt, sagt sie, sei für sie kein Maßstab. Solche Sätze sagt sie nicht böse, sondern rein erklärend. Wie diese Autorin sowieso ein großes Talent dafür hat, auf dem Teppich zu bleiben. In Klagenfurt geht es für sie darum, dass einige kluge Menschen, die Juroren, sich auf einen Text einigen. Dass der dann große Literatur und die anderen Texte schlechte Literatur seien, folgt für sie daraus nicht. Ohne damit Klagenfurt abwerten zu wollen. Über den Sieg gefreut hat sie sich aber natürlich dennoch.

Soll man statt von einer Unterwanderung lieber von einer narzisstischen Kränkung des Literaturbetriebs sprechen? Das wiederum würde unbedingt den Ernst unterschätzen, mit dem sich Kathrin Passig ans Schreiben ihrer Erzählung gesetzt hat. Im Gespräch lässt sie zwar Wendungen fallen, die einem aus dem Mund einer Schriftstellerin doch zunächst etwas flapsig erscheinen könnten. Sie sagt: „Ich bin ordentlich mit dem Metaphernstreuer über den Text gegangen.“ Und: „Es lag mir daran, ein schönes Gewirr aus Querverbindungen herzustellen.“ Aber im Verlauf des Gesprächs wird klar, dass sie mit dieser kalten und unsentimentalen Redeweise sehr genau die Probleme von Literaturproduktion benennt.

Man kann mit dieser Autorin zugleich so eindringlich wie so distanziert über ihren Text reden, wie man mit einem Ingenieur über einen Bauplan für eine Maschine reden würde. Ihrem privaten Erleben hat sie den Nukleus ihrer Erzählung, die vom Erfrieren handelt, entnommen; im kanadischen Winter hat sie sich einmal verlaufen (für spätere Passig-Forscher sei angemerkt, dass es auch einen sachlichen Bericht dieser Episode, geschrieben fürs Internetforum „Die höflichen Paparazzi“, gibt, in ihm finden sich einige Motive aus der Erzählung wieder, etwa die abfotografierte Landkarte, die nichts nützt). Darüber hat sie Schichten von Metaphern geklebt, die sie von überallher entlehnt hat. Das Ganze hat sie durch den Filter einer unzuverlässigen Erzählerin geschickt, der man als Leser nicht trauen kann, ja, die aufgrund der Kälteeinwirkung noch nicht einmal selbst weiß, ob sie sich trauen kann. Und über allem steht als heimlicher Spiritus Rector und geheime Blaupause der alte Meister Vladimir Nabokov. So spaßbereit Kathrin Passig an Klagenfurt rangegangen ist, ihren Text hat sie mit der Sorgfalt einer Laborantin konstruiert.

Vielleicht liegt darin ja doch eine versteckte narzisstische Kränkung. Sie könnte vielleicht auch viel mehr als die Unterwanderungsthese die Irritation erklären, die von dieser Autorin ausgeht. Hier hat sich jemand vorgenommen, Literatur zu produzieren, und es ist ihr gelungen. Aus dem Stand. Einfach so. Und dann auch noch mit der Spaßvokabel auf den Lippen – die sich im Gespräch aber doch relativiert, weil sich allmählich, fast zögerlich herausschält, was für einen Heidenrespekt Kathrin Passig vor der Literatur hat. Dass man sich in literarischen Texten als Autorin auch dann persönlich preisgibt, wenn man scheinbar gar nicht autobiografisch redet, das scheint sie gleichzeitig zu locken wie abzuschrecken. Nicht, dass die Sache mit dem Spaß nur eine Maske wäre – der Spaß hat schon sein Eigenrecht. Aber ein hoher literarischer Ernst ist in diesem Spiel mit drin. Nabokov als Bezugspunkt ist schließlich nicht von Pappe.

Das Porträtfilmchen, das in Klagenfurt immer vor den Lesungen der einzelnen Autoren läuft, hat Kathrin Passig selbst mitentwickelt. Es ist sehr selbstparodistisch und macht sich hübsch über Künstlerklischees sowie Dichterposen lustig. Großartig der Satz, den man Kathrin Passig in die Tastatur tippen sieht: „Jeder Anschlag ein Anschlag auf das Nichts.“ Es treten in Klagenfurt auch immer noch Autoren auf, bei denen so ein Satz ernst gemeint sein könnte. Man muss diesen Film und die Erzählung zusammennehmen, um die Wirkung des Klagenfurter Auftritts zu verstehen. Ein Albernfinden von Schwerkunstposen hat sich in diesem Schreibansatz mit einem hohen handwerklichen Ehrgeiz zusammengefunden. Zur pathetischen Schreibhaltung der Hausheiligen von Klagenfurt, zu Ingeborg Bachmann, laufen da keine untergründigen Kanäle. Wenn man Kathrin Passig schon in einen Bezugsrahmen stellen möchte, dann am ehesten in den der Neuen Frankfurter Schule. Es ist natürlich noch viel zu früh, sie mit Robert Gernhardt oder Eckard Henscheid zu vergleichen. Aber von der Haltung her gibt es da Verbindungslinien: Künstlerisch ehrgeizige Bücher schreiben und sich zugleich über Künstlerposen lustig machen, das geht auch bei diesen beiden Autoren gut zusammen.

Das Erstaunen darüber, woher diese Autorin ihre literarischen Fertigkeiten hat, lässt sich auch relativieren – wenn man die Kolumnen liest, die Kathrin Passig mit Holm Friebe für die Berliner Zeitung geschrieben hat und die soeben unter dem Titel „Das nächste große Ding“ im Verbrecher-Verlag erschienen sind (zuvor hatte Passig mit Ira Strubel auf der Internetseite der taz eine Kolumne geschrieben). Das sind journalistische Gebrauchstexte über Trends aus der weiten Welt des Konsums, etwa dazu, endlich wieder unkomplizierte Mobiltelefone auf den Markt zu bringen oder Kunden mit Gerüchen anzulocken. Aber es finden sich hier viele Qualitäten wieder, die auch die Bachmann-Erzählung zu mehr als nur einer Talentprobe werden ließen: die Fähigkeit, Pointen zu setzen, die Wirkung von Metaphern abzuschätzen, und die kühle kalkulierende Art, mit der die Autorin an Texte herangeht. An solchen Texten hat Kathrin Passig ihr Schreiben geschult, und mit der Bachmann-Erzählung setzt sie dazu an, raffiniertere Texte zu produzieren.

Auch bei diesen Kolumnen lässt sich die Verbindung von Spaß und Ernst aufzeigen: Hinter den ironischen Distanzierungsgesten lesen sie sich als Versuche, die moderne Konsumwelt kritisch zu durchleuchten und sich gleichzeitig vielfältig interessant zu machen. Kann gut sein, dass sich der letzte Satz auch dazu eignet, Kathrin Passigs Ausflug in die Klagenfurter Literaturwelt zu beschreiben.

Wie der Zufall so spielt, hat Kathrin Passig in diesen Wochen nicht nur ihre literarische Initiation erlebt. Sie ist auch selbst literarisiert worden. In der Juli-Ausgabe der Merkur hat Michael Rutschky sie als Vorbild für eine Figur genommen, mit der er die neue Berliner Bohème beschreibt. Lange studieren ohne klares Ziel, sich dann mit Beratungen und Projekten rund ums Internet finanziell über Wasser halten, die Beschreibung dieses Lebensentwurf hat sich Rutschky bei Kathrin Passig abgeguckt. Sie erzählt denn auch, dass ihr Mitautor Holm Friebe wirklich gerade an einem Buch sitzt, dass das Leben der digitalen Bohème reflektieren soll.

Von da her lässt sich der Klagenfurt-Ausflug auch ganz anders denn als Versuch einer Unterwanderung beschreiben. Denn wenn, wie das offensichtlich der Fall, die quirlige Kulturproduktion der Szene, in der sich Kathrin Passig herumtreibt, wie von selbst irgendwann bei ernst genommenen und reflektierten literarischen Beschäftigungen landet, dann ist das doch eher ein Triumph der Literatur! Mal sehen, was da noch kommt. Das ist eine Perspektive, in die man sich – während Kathrin Passig neben einem in die Sonne blinzelt – geradezu verknallen kann.