Graue Band der Sympathie

Sie haben arme Jungs zu Street Fighting Men gemacht. Wie aber fühlt es sich an, wenn man älter wird mit den Rolling Stones? Beobachtungen aus dem Berliner Olympiastadion, wo die größte Rock-’n’-Roll-Band der Welt am Freitagabend spielte

von FRANZ JOSEF WAGNER

Mick Jagger ist eine Woche älter als ich, er wird am 26. Juli 63, ich am 7. August. Aber es waren viele tausend noch Ältere im Berliner Olympiastadion als wir beide. Vielleicht war es das, was wir feierten: dass die Katastrophen wie Weltuntergang, Raucherkrebs, Prostata, Herz, Venen nicht eingetreten waren und auch in dieser Nacht nicht eintreten würden.

Block N, Reihe 35, Platz 7, um mich herum gestrige Gesichter, aber zum ewigen Gestern bereite Gesichter, keineswegs unglückliche Gesichter, glückliche Raucher – Alko-Gesichter. Ein Schrei des Entzückens und Erregung, als sich Keith Richards die erste seiner zehn Marlboros ansteckt, die er in dieser Nacht rauchen wird, riesengroß in der Gitarre spielenden Hand auf der Leinwand, wunderbar ungesetzlich. Nein, schön ist das Publikum der Rolling Stones nicht. Wer will schon schön sein wie Oli- ver Bierhoff? Und die Musik? Na ja. Jemand schrieb: „Es gibt genug anderen Lärm auf der Welt.“

Es gibt den Lärm des Presslufthammers, den Lärm einer startenden Boeing, den Lärm, den Michael Schumacher macht. In dieser Nacht jedoch hörten wir die Matrix des Lärms: Krakeelen, Schreien, Krächzen, Fauchen. „Priapistischen Rock“ nannte der Stones-Biograf Stephen Davis den Lärm der Stones. Musik wie ein Dauerständer. Das ist natürlich sehr romantisch gesagt. In Block N, Reihe 35, sah ich höchstens die Erinnerung an einen Ständer. Aber ist es nicht wunderbar, wenn sich dieses Organ wieder bemerkbar macht. „I Like It, I Like It“, lärmen die Stones – und Minuten später: „Let’s Spend The Night Together“.

Kann man glücklich alt werden mit den Stones – ach, für eine Nacht schon. Natürlich kann ich nicht mehr Fußball spielen wie Poldi oder Schweini, aber ich habe das Gefühl, nicht am Spielfeldrand zu stehen. Das ist nicht wenig, das ist viel.

„What can a poor boy do except to sing for a rock’n’roll band“ ,fragte Mick Jagger vor 40 Jahren in seinem Ur-Song „Street Fighting Man“. Vor 40 Jahren – wo war ich?

Vor 40 Jahren hing ich auch an den Fersen des Glücks. What can a poor boy do … Micks Mutter war Avon-Beraterin, meine Handarbeitslehrerin, sie unterrichtete Mädchen im Stricken und Tischdecken. Da war nicht viel Kohle zu holen. Also, what can a poor boy do?

Er kann Zahnarzt werden, Astronaut werden, er kann sein Leben verschlafen, er kann Mick Jagger werden, oder er kann im Drogenrausch wie der beste Rolling Stone, Brian Jones, im Swimmingpool ertrinken. Er kann ein Gesicht wie Keith Richards kriegen, er kann Bianca Jagger heiraten, Jerry Hall. Er kann sieben Kinder mit vier Frauen zeugen, er kann aber auch als PR-Gag auf eine Palme klettern und herunterfallen. Er kann Boulevard-Reporter werden, Gossen-Goethe. Er kann eigentlich alles werden, wenn er ein Street Fighting Man ist.

Als Zugabe spielten die Stones zwei Lieder. Beim ersten sang ich hingebungsvoll mit. „You Can't Always Get What You Want“.

Beim zweiten ging ich. „I Can't Get No Satisfaction“ Das ist nun wirklich altmodisch, das ist wie die „Internationale“.

Mit „You Can’t Always“ glitt ich im Taxi durch die Berliner Nacht, Richtung Paris Bar, um mich mit Alkohol noch ein bisschen mehr in Stimmung zu bringen.

Der Autor ist Kolumnist der Bild-Zeitung