Vor der Zukunft kamen die Bomben

Beirut, offene Stadt: Einst war die Hauptstadt des Libanons eine arabisch-mediterrane Metropole – und sie war gerade dabei, es wieder zu werden

Die Beiruter Kulturszene war drauf und dran, die Kultur ihrer Stadt zu ändern: offener, liberaler, hedonistischer, kritischer

VON ANNA TRECHSEL
UND THOMAS BURKHALTER

Ein zerbombtes Wohnhaus, mitten in der Stadt. Ein gigantischer Krater, mitten in der Straßenkreuzung. Ein zerstörter Leuchtturm, mitten an der Corniche, der kilometerlangen Meerespromenade. Gespenstische Bilder einer fast menschenleeren Stadt flimmern über die Bildschirme und werden in Zeitungen aller Welt abgedruckt – Beirut, so kennt man die Stadt seit dem Bürgerkrieg, der vor fünfzehn Jahren zu Ende ging. Die alten Bilder sind jeden Tag weniger von den Bildern von Beirut im Juli 2006 zu unterscheiden. Doch Beirut kann nicht auf Zerstörung, Gewalt und Stellvertreterkrieg reduziert werden – Beirut war noch vor zwei Wochen eine blühende, offene Stadt, deren Bewohnerinnen und Bewohner mit viel Energie, Zuversicht und Motivation die Zukunft in Angriff nahmen. Eine Stadt, die stets in Bewegung blieb, die sich wieder herausputzte, die wieder stolz war auf das, was sie einmal war und wieder wurde: eine arabisch-mediterrane Metropole, Zentrum für Kultur, Mode, Architektur, Literatur und vieles mehr. Eine Metropole, die auch viele Ausländer anzog, wie die große Zahl der Evakuierten aus Europa und den USA jetzt zeigt.

Im christlich geprägten Osten der Stadt, gleich neben dem Stadtzentrum, das im Bürgerkrieg vollständig zerstört und danach fast vollständig wieder aufgebaut wurde, liegt Gemmayze. Noch vor fünf Jahren war das Sträßchen völlig verschlafen, mittlerweile sind viele Alteingesessene jedoch weggezogen. Gemmayze hat das vorwiegend sunnitische Hamra im Westen der Stadt als Szeneviertel abgelöst, Bars reihen sich an Clubs reihen sich an Restaurants. Der Grund hierfür ist einfach. „In Hamra kannst du nicht mit einer Bierflasche in der Hand durch die Straße laufen“, sagt Gharo Gdanian, ein armenischer Death-Metall-Musiker. Dabei entstehen auch in Hamra laufend neue Cafés, wie das „De Prague“, in dem sich Studenten und Künstlerinnen treffen. Das „Zico House“, die kulturelle Institution der Nachkriegsjahre schlechthin, hat kürzlich erst ein Café eröffnet – unweit des Sanayeh-Parkes, in dem jetzt die Vertriebenen aus dem Süden campieren. Die Kunst- und Kulturszene breitet sich auf immer neue Stadtteile aus. Beim Schlachthof, im Karantina-Viertel außerhalb der Stadt, produziert die Galerie Sfeir-Semmler seit kurzem Ausstellungen von international anerkannten und libanesischen KünstlerInnen.

Besonders die Generation derjenigen, die den Bürgerkrieg als Kinder und Jugendliche miterlebt haben, will ihr Land verändern. Viele glauben nicht mehr an die politischen Führer und an die Politik des Landes, sehen zu wenige Fortschritte. Also versuchen sie, eigene Wege zu gehen. Zeid Hamdan, Musiker und Produzent, und Tony Sfeir, Musikproduzent und Manager vom CD-Laden CD-Thèque, organisieren Konzerte in urbanen Nischen. Im Mai mieteten sie für teures Geld den Beiruter Luna Park an der Corniche. „What the fuck is going on, staying alive“, sang die Post-Rock-Band The New Government. Die Band Rayess Bek rappte vom Konfessionalismus, davon, dass sich in diesem Land die verschiedenen Religionsgemeinschaften noch immer voller Misstrauen begegnen. Derweil amüsierte sich das bunt gemischte junge Publikum in der Geisterbahn, auf den Putschautos und auf dem Riesenrad, das einen wunderschönen Ausblick auf die Stadt gewährte. Freier Eintritt auf allen Bahnen – die Angestellten des Luna Parks freuten sich über den Andrang und die etwas ungewohnte Klientel.

Einige Beiruter Musiker komponieren Filmmusik und verdienen ihr Geld in der aufstrebenden Filmbranche. Die lokale Film- und Videoszene schien sich so langsam vom Bürgerkriegsstigma zu befreien: Libanesinnen und Libanesen wollen auch Filme über andere Themen drehen, wollen persönliche Geschichten erzählen – wie etwa der Regisseur Ghassan Salhab, der zuletzt einen Vampirfilm drehte. Letzte Woche öffnete das neue Atelierkino Metropolis seine Tore. Während zehn Tagen sollte die „Semaine de la critique de Cannes“, eine Auswahl von Filmen junger Regisseure, gezeigt werden. Organisatoren von Cannes waren anwesend – sie dankten den vierzig Leuten, die trotz Ausbruch der Krise zum Festival gekommen waren.

Neben dem neu eröffneten Metropolis ist gleich das Beiruter Stadttheater. Hier sprach im Mai noch der US-amerikanische Linguist und Publizist Noam Chomsky zum ersten Mal überhaupt in Beirut. Das Stadttheater war bis auf den letzten Platz gefüllt, Chomsky sprach über die fehlgeschlagene US-Nahostpolitik, und erhielt vom dankbaren Beiruter Publikum tosenden Applaus dafür. Dass er jüdisch ist, wussten alle und kümmerte keinen. Das Stadttheater, „Masrah al-Madina“, war zwar nur ausnahmsweise politisches Diskussionsforum – aber das Theater, das hier normalerweise gespielt wird, ist nicht minder brisant und politisch. Eine libanesische Adaption der „Vagina Monologues“ von Eve Ensler wurde hier vor einigen Monaten uraufgeführt. Die Regisseurin Lina Khoury hat das Skript fünfzehnmal umschreiben müssen, bis es die Zensurbehörde gutgeheißen hat, behandelt es doch ein Thema, das zumindest in der Öffentlichkeit nach wie vor Tabu ist: die (weibliche) Sexualität. Das Publikum wusste den Tabubruch zu schätzen: Das Stück hatte dermaßen Erfolg, dass die Spielzeit bis August verlängert wurde, in einem kleineren Theater allerdings. Selbst Beamte von der Zensurbehörde waren begeistert von dem Stück. Sie hätten sogar Tickets für Verwandte und Freunde bestellt, erzählt Khoury.

Die Beiruter Kulturszene war drauf und dran, die Kultur ihrer Stadt zu verändern. Unabhängige Künstler und ihre Werke wurden in einer immer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert. Der eher düstere intellektuelle Film „A Perfect Day“ von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige etwa wurde in den Multiplex-Kinos der großen Beiruter Shopping-Malls gezeigt, im Herzen also der libanesischen Konsumwelt, die vielen Intellektuellen und Künstlern so auf die Nerven geht. „Mit extremem Konsum verdrängen die Libanesinnen und Libanesen die Erinnerungen an den Bürgerkrieg“, schreibt Samir Khalaf, Soziologe und Professor an der Amerikanischen Universität Beirut. Bis heute wird über die „Ereignisse“ kaum diskutiert; bis heute lernen Christen und Muslime aus verschiedenen Büchern die Geschichte ihres Landes kennen. KünstlerInnen der Bürgerkriegsgeneration haben dieses und andere Tabuthemen immer öfter angesprochen. Sie haben es geschafft, damit erste Brücken zur breiten Bevölkerung zu schlagen. Diese symbolischen Brücken sind nun – wie jene aus Stein – wieder zerstört worden.

Thomas Burkhalter ist Musikethnologe und arbeitet an seiner Dissertation zur unabhängigen Musikszene in Beirut (siehe Texte www.norient.com), Anna Trechsel ist Islamwissenschafterin und Radiojournalistin.