Graue Maden nagen an Vernunft

Die Götter, für die wir blind geworden sind: Mit dem „Rheingold“ beginnt die Neuinszenierung des „Ring“ durch Tankred Dorst in Bayreuth

Gras sprießt aus dem verrotteteten Beton, verwaschen sind die Graffiti zwischen den Versorgungsschächten, dazwischen Türen, von denen man nicht weiß, wohin sie führen: Hier hausen die Götter, mitten unter den Menschen und doch nicht von ihnen bemerkt, im „Rheingold“, dem Vorspiel des „Ring des Nibelungen“, den Tankred Dorst mit seiner Frau Ursula Ehler dieses Jahr in Bayreuth neu inszeniert.

Tankred Dorst ist zunächst einmal Dichter. Er hat noch nie eine Oper inszeniert. Wolfgang Wagner rief ihn zu Hilfe, als der Däne Lars von Trier die „Ring“-Inszenierung absagte. Dorst hat sich zeit seines Lebens, er ist jetzt 80 Jahre alt, in seinen Texten mit Sagen- und Märchenstoffen beschäftigt, Katholisch-Heidnisches zwischen Mysterien- und Rüpelspiel, drastisch und deftig, weg vom „Kleinrealismus“. Er kommt nicht zufällig vom Marionettentheater her, mit dem er als Student in den Fünfzigerjahren begann. Er lässt die Geister der Natur, der Zerstörung, die alten Bilder für Liebe und Hass, Riesen, Zwerge und kämpfende Drachen in seinen Stücken lebendig werden und kommt damit in eine stoffvertraute Nähe zu Richard Wagners „Ring“.

Dorst lässt sie alle eindrucksvoll aufmarschieren, die alten Götter und Fabelwesen, die das „Rheingold“ beschwört: die sakralen Wasserwesen der Rheintöchter, die wohlgenährten Götter Wotan und Fricka in ihrem Machtwahn, die Nachtalben mit ihrer Gier und Missgunst als grüne Froschwesen, die Nibelungen schließlich, das geknechtete Bergvolk, als kleine graue Maden mit Glimmäuglein, wie immer gespielt von Kindern. Als der Streit um den „Ring“ in das Bergwerk der Nibelungen führt, reißt in der Tiefe des Hauses die Betonwand auf und gibt den Blick frei auf eine andere Zeitschicht, wie den archäologischer Fund einer scheinbar untergegangenen Welt. Dorst schreibt im Vorfeld der Inszenierung, „dass die alten fremden Götter noch immer da sind, sich hier und dort einnisten in unseren heutigen Städten, wenn wir sie auch, vernunftgläubig, nicht sehen, nicht wahrhaben wollen“.

Dorst also inthronisiert die alten Götter neu, aber Leben und Glaubwürdigkeit hat er ihnen in seiner Inszenierung bislang nicht einhauchen können. Die Götter schreiten in – vielleicht ironisch gemeinten – großen Posen einher, bleiben blass. Sicher ist, dass Dorst für die genaue Arbeit mit den Sängern und den erbarmungslosen musikalischen Vorgaben der Tempi und Töne zu wenig Zeit blieb. Sicher ist aber auch, dass jetzt eben gilt, was gilt. Christian Thielemann dirigiert den „Ring“ mit großer Zartheit und Kraft und zaubert den berühmten samtenen Bayreuth-Klang tatsächlich hervor, in einem spannenden Radius zwischen großer Emphase und minimalistischer Feinarbeit.

Was Schlingensief in seinem Bayreuther Chaos-„Parsifal“ an spiritueller Auseinandersetzung mit Wagners Werk lediglich behauptete, wo Jürgen Flimm im letzten Bayreuther „Ring“ so schmählich stumm blieb und sich in kleinkrämerischer Detailpuzzelei verlor, könnte jetzt durch den alten Tankred Dorst ein Impuls entstehen, dem Mythos mit spielerischer Tiefe Rechnung zu tragen. Provokanten Stoff gibt es genug. Es könnte aber auch, und das dräut, in Langeweile ertrinken.

SABINE ZURMÜHL