Ein Jahrhundertkrieg

Fatale Siege, Niederlagen ohne Folgen: Ein kalter Blick zurück auf die verknotete Vorgeschichte des israelisch-libanesischen Konfliktes, in dem alle Akteure in ihrer Perspektive gefangen bleiben

Jeder israelische Sieg schafft eine neue Generation von FeindenWer kann sich einen palästinensischen Mandela oder Ghandi denken?

VON MICHAEL KLEEBERG

Einen bestimmten Punkt wie jetzt den Angriff Israels auf den Libanon aus der Tragödie des Nahen Ostens herauslösen und gesondert beschreiben zu wollen, ist, als versuche man, in eine rotierende Kreissäge zu greifen, um einen bestimmten Zahn dingfest zu machen.

Alle in diesen Tagen überkochenden Emotionen also beiseite, werfen wir einen kalten Blick zurück auf die Wegbereiter und die Akteure des seit 60 Jahren herrschenden Krieges in dieser Region.

Da wäre zunächst die aus Dummheit, Eigennutz, Heuchelei, spätem Imperialismus und Taktieren gemischte Politik der beiden Mandatsmächte England und Frankreich, die nach gewonnenem Erstem Weltkrieg das Machtvakuum füllten, das das zerbröselnde Osmanische Reich in der Region gelassen hatte. Die Engländer, Herren über Palästina, Transjordanien und den Irak, denen an der Sicherung des Landwegs nach Indien gelegen war, versprachen sowohl den Stämmen, die sie im Krieg gegen die Türken unterstützt hatten, ein panarabisches Reich als auch, inoffiziell, in der Balfour-Deklaration, den europäischen Juden eine Heimstatt in Palästina.

Das Versprechen an die Araber, sofern es jemals anderes als zynisches Kalkül gewesen war, vergaßen sie bald wieder, was ihnen die notorische Uneinigkeit der Fürsten erleichterte; das an die Juden hätten sie am liebsten auch wieder vergessen, nur die vergaßen es nicht, und so begannen die zionistischen Einwanderer, deren erste schon Ende des 19. Jahrhunderts im Anschluss an Pogrome in Russland gekommen waren, sich unter Berufung auf den Balfour-Akt zu organisieren – wir reden zu dieser Zeit noch immer von wenigen zehntausend jüdischen Siedlern – und Grundlagen für ein zukünftiges Staatsgebilde zu schaffen. In diese Zeit fallen auch bereits erste blutige Auseinandersetzungen mit den ortsansässigen Arabern, die sich von den Aktivitäten der jüdischen Siedler in ihrem Trott bedroht fühlten. Außer auf europäische Unterstützung durften diese auch auf die imperialistische Verächtlichkeit der Kolonialherren setzen. Ging es ums Prinzip (der Herkunft), stand auch dem antisemitischsten Engländer ein europäischer Jude näher als ein Araber.

Die Franzosen, Mandatsmacht über Syrien und den Libanon, unterdrückten ihrerseits blutig die Bestrebungen, ein panarabisches Reich mit Damaskus als Hauptstadt zu schaffen, und rissen dem historischen Syrien stattdessen den Libanon ab, um der dort ansässigen christlichen Minderheit eine sichere Stätte im Meer des Muslims zu schaffen und sich selbst einen dauerhaften Brückenkopf in der arabischen Welt. Die dazu nötigen Verrenkungen einer Machtverteilung entlang der Glaubensgrenzen zwischen Christen, Sunniten und Schiiten sicherten dem Libanon nach seiner Unabhängigkeit zwar ein prekäres Gleichgewicht, trugen aber zugleich den Keim zum Bürgerkrieg in sich, der dann 1975 ausbrach, als infolge des Jom-Kippur-Kriegs die neuerliche Welle von flüchtigen Palästinensern nach der Macht im Libanon griff und damit das Gleichgewicht der Kräfte zerstörte.

Die nach 1945 in die Unabhängigkeit entlassene oder gestoßene arabische Welt war wirtschaftlich rückständig, verarmt, politisch gespalten, von den Imperialisten gegeneinander ausgespielt und politisch vollkommen unerfahren. Dazu kamen erschwerend die lokalen charakterlichen Besonderheiten wie der tief sitzende politische Minderwertigkeitskomplex bei gleichzeitiger moralisch-historischer Selbstüberschätzung, die Tendenz zur Maulhurerei, eine Unfähigkeit zu strategischem Denken und ein gespaltenes Verhältnis zur Realität.

Wer aber Briten und Franzosen die Mitschuld an den Verhältnissen in Nahost gibt, darf den größten Verantwortlichen nicht verschweigen: das deutsche Naziregime, das sechs Millionen europäischer Juden umbrachte. Erst aus dieser Katastrophe heraus entschied die Weltgemeinschaft, den Juden in Palästina nicht nur Bleiberecht, sondern einen Staat zu gewähren. Erst aus dieser Erfahrung heraus ist das „Nie wieder mit uns“ der Israelis entstanden, das sie auf jede Provokation, jeden Nadelstich, jede Aggression, ja jedes Zögern der Araber mit erhabener Härte und einem Überlebenswillen reagieren lässt, dessen Resultate man als Deutscher nicht mit der Objektivität kritisieren kann, die auch hier notwendig wäre. Die Folgen des Holocaust ließen aus der Tragödie der europäischen Juden die Tragödie der Palästinenser entstehen, ja aller arabischen Völker. Damit war der Knoten geschürzt, den bis heute niemand lösen und kein Alexander durchschlagen konnte.

Am Rande gesagt, habe ich, mit libanesischen Freunden, die zwar nicht die Vernichtung Israels wünschten, den jüdischen Staat aber dennoch als Feind ansahen, durch das Berliner Jüdische Museum gehend, gesehen, wie ihnen anhand der Exponate über den Holocaust zum ersten Mal in ihrem Leben ein Licht des Begreifens darüber aufging, woher dieser Überlebenswille rührt, den sie nur als Aggressivität wahrnehmen können.

Durch die Schaffung des Staates Israel 1948 im dünn besiedelten, aber dennoch von einer halben Million Menschen bewohnten Palästina fühlten sich die Araber ein weiteres Mal von den ehemaligen Mandatsmächten verraten und erklärten, nachdem sie der UNO-Entscheidung nicht zugestimmt hatten, den Krieg, der bereits nach demselben Muster ablief, das seither alle Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Arabern prägt. Einem rhetorisch wilden Verneinen ohne ein Gegengewicht an eigenem positivem Wollen, einer Fehleinschätzung der Gegner und der Neutralen und einer unkoordinierten und halbherzigen Aggression bei den Arabern steht eine immer schon strategisch erwartete, durchgeplante, von taktischen Zielen geformte und so professionell wie skrupellos geführte Vorwärtsverteidigung der Israelis gegenüber. Das war 1948 so, mit dem Ergebnis, dass ein palästinensisches Flüchtlingsproblem entstand, das von den Mandatsmächten, Ägypten für den Gaza-Streifen, Jordanien für das Westjordanland, mit brüderlicher Rhetorik und härtester Hand gelöst wurde, das war 1967 so, 1973 und bei allen weiteren Auseinandersetzungen bis hin zum unerklärten Krieg derzeit gegen den Libanon.

Die tragische Dialektik der israelischen Siege ist die durch sie hervorgerufene Schaffung immer neuer Generationen von Feinden. Schon die Staatsgründung und der erste verlorene Krieg diente den Arabern als Vorwand für die Schaffung militarisierter, autokratischer Diktaturen von Syrien bis zum Irak, die die eigene Bevölkerung in Geiselhaft nehmen, terrorisieren und ermorden konnten und ihnen vormachten, nur ein seinen Führern treu ergebenes Volk könne auf den Endsieg gegen Israel hoffen. Mit dem Sieg im Sechstagekrieg gegen Ägypten beendete Israel die Ära Nasser, der für unzählige Araber, vor allem auch Intellektuelle, der Hoffnungsträger für ein geeintes, laizistisches und sozialistisches Panarabien gewesen war, und schuf dadurch eine der Keimzellen für den Aufstieg des Islamismus in der arabischen Welt, der heute sein erbarmungslosester Gegner ist.

Mit dem Einmarsch im Libanon 1982 und dem schrittweisen Rückzug wurde die Hisbollah gestärkt, auf deren letzte Provokationen und tödliche Nadelstiche Israel nun wiederum mit einer kühl durchdachten Strategie der Vorwärtsverteidigung reagiert hat.

Ist der Staat Israel ein ständig geplagtes, ständig bedrohtes, aber doch stabiles Gebilde, so sind die wahren Opfer der Region die Palästinenser, ein Bauernopfer in dieser Welt beständiger Stellvertreterkämpfe, wo der Hund geschlagen und der Herr gemeint wird. 1948 halb geflohen, halb vertrieben, danach von Ägypten und Jordanien klein und bar jeglicher Autonomie gehalten, seit 1967 von Israel gegängelt und erniedrigt und von den Brudervölkern weniger als willkommen geheißen – man denke an die Massaker in Jordanien, den Schwarzen September 1970 und die Massaker im Libanon in Sabra und Schatila 1982 –, aber jahrzehntelang auf zynische Weise instrumentalisiert.

Die wenigen Male aber, in denen die Palästinenser wirklich die Gelegenheit hatten, selbstständig eine Entscheidung über ihr Schicksal treffen zu können, 2000 in Camp David oder zu Beginn dieses Jahres bei relativ freien Wahlen, entschieden sie sich charakteristischerweise falsch: bellizistisch, von Emotionen getrieben, großmäulig, unversöhnlich, kompromissfeindlich. Betrachtet man die historische Gestalt eines Jassir Arafat, ist es quasi unmöglich, sich vorzustellen, dass es auf Erden auch andere und vielleicht effizientere Formen des Widerstands gegen eine grausame Besatzungsmacht gibt als die, die der PLO einfielen und heute der Hamas: Wer kann sich einen palästinensischen Gandhi oder Mandela denken? Und doch hätte vielleicht nur ein solcher Quantensprung aus den arabischen Denkschemata heraus den Druck auf Israel genügend erhöht, um den Palästinensern endlich ihren eigenen Staat zu gewähren.

Die Akteure dieses Jahrhundertkriegs um Israel und Palästina wechseln – Ägypten und Jordanien sind vom Gewaltkarussell abgesprungen, der islamistische Iran ist dazugekommen, die PLO von der Hamas überflügelt, die Hisbollah ist der dynamischste Feind, Syrien der konstanteste –, aber die Strukturen bleiben dieselben. Wann immer der jeweils vorgeschickte Gegner lauthals, leichtsinnig, undurchdacht, unkontrolliert eine gewisse Grenze der Gefährdung überschreitet, schlägt Israel zu, als sei alles bereits lang erwartet, geplant und komme gar nicht unliebsam: Tatsachen schaffend, Kollateralschäden in Kauf nehmend, wie jetzt im Libanon.

Warum aber im Libanon? Warum in dem Staat, der am wenigsten mit Israel zu tun hat, dessen Bevölkerungsmehrheit problemlos mit der Existenz des jüdischen Staates leben könnte?

Der Libanon, und das ist das Tragische, ist das freieste, modernste und liberalste Land der arabischen Welt – vielleicht weil es, würden manche behaupten, nicht recht dazugehört. Ein hohes Bildungsniveau, die unabhängigste Presse, die innovativsten, mutigsten Künstler, größtmögliche Toleranz in Fragen der Sitte, politische Ausgeglichenheit. Es ist das Land, das die erste Demokratie Arabiens werden könnte und nach den traumatischen Erfahrungen des Bürgerkriegs auch werden möchte.

Im Libanon aber agiert auch die Hisbollah, das ist die Schizophrenie oder die Dialektik, mit der ein Libanese sehr wohl, ein Israeli aber, wird das Bedrohungspotenzial zu groß, nicht umgehen kann. Dabei bedroht die Hisbollah de facto den Libanon existenzieller als Israel, denn er hat diesen Staat im Staate innerhalb seiner Grenzen.

Libanesische Intellektuelle gestehen offen, dass man die Hisbollah vor die Wahl stellen müsste: Entweder ihr seid ein Teil des Libanon oder nicht. Wenn ja, dann habt ihr euch den Gesetzen zu fügen und die Waffen abzugeben. Wenn nein, muss die Gesellschaft die Hisbollah ächten. Leichter gesagt als getan. Fanatische Islamisten haben libanesische Freidenker schon für weniger umgebracht, und tun sie es nicht, erledigen es syrische Mordkommandos. Im Übrigen ist es ein offenes Geheimnis, dass der Iran eine aktive Kampagne führt, um in allen arabischen Ländern der schiitischen Minderheit zur Macht zu verhelfen, um islamische Gottesstaaten nach iranischem Vorbild aufzubauen. Auch wenn der Libanon in Fetzen gerissen wird, wurde mir gesagt, die Hisbollah gäbe es immer noch.

Es ist billig, den hilflosen Staat Libanon für die Exzesse der Hisbollah verantwortlich zu machen, wie der israelische Premierminister Olmert es tut. Es ist leicht, den Kopf zu schütteln über den von so vielen Schlägen immer noch nicht ausgerotteten Irrglauben arabischer Politiker, man könne Israel gegenüber ungestraft die Doppeltaktik von offizieller Verhandlungsrhetorik und inoffiziellen Terrorangriffen führen. Wirklich tragisch für die Libanesen ist es, dass der erste wahrhaft einige und freiheitliche politische Akt ihrer Geschichte, nämlich die friedlichen Massenproteste, die die Syrer aus dem Land drängten, damit zugleich die Schutz- und Kontrollmacht der Hisbollah vertrieben haben, die bislang, so wie es Ägypten seinerzeit mit der PLO machte, das Niveau der antiisraelischen Nadelstiche unterhalb der Kriegsgrundgrenze zu halten suchte. Kaum kontrollierte keiner mehr die Hisbollah, verlor sie das Maß – im Nahen Osten kann man leider immer noch sicher sein, dass jedes entstehende Machtvakuum von mörderischen Provokateuren gefüllt wird.

Israel hat den Augenblick genutzt und einen taktischen Sieg errungen, es weiß selbst, dass es die Hisbollah nicht ausradieren kann, aber es weiß, dass es Tatsachen schaffen kann, die dann die ewig zögerliche internationale Gemeinschaft auf den Plan rufen. Besetzt eine UNO-Truppe den Südlibanon und schafft eine Pufferzone, entwaffnet sie gar gemäß der Resolution 1559 die Hisbollah, so hat Israel einige Jahre Ruhe.

Vielleicht wäre eine solche Entwicklung ja sogar ein Gewinn für den Libanon, immer vorausgesetzt, es gibt dann noch einen Libanon, und eine behutsame und intelligente Politik leistet Wiederaufbauhilfe und bindet die Schiiten in den Staat ein, oder noch besser, verwandelt die konfessionelle Republik in eine repräsentative. Ein hypothetischer Gewinn, aber um welchen Preis?

Denn über eines bleibt noch zu sprechen, und das ist die irrationale Seite der israelischen Politik, die so viel Rationales hat. Keine Strafexpedition gegen die Hisbollah, keine Vergeltungsaktion wegen zweier entführter Soldaten rechtfertigt das vom israelischen Stabschef angekündigte und in die Tat umgesetzte „Zurückbomben des Libanon in den Zustand vor 20 Jahren“, sprich in den Bürgerkriegszustand. Nichts rechtfertigt die bewusste Zerstörung der Infrastruktur, die das durch die Wiederaufbauprogramme hochverschuldete Land in den Staatsbankrott treibt. Nichts rechtfertigt die massenhaft getöteten Zivilisten, die Frauen und Kinder. Es gibt eine Nachtseite der israelischen Politik, die das Gegenstück bildet zum ohnmächtigen, brodelnden Hass der Araber auf die Israelis, und das ist deren kalte Verachtung der Araber.

Schon zu Zeiten der Besetzung des Libanon 1982, erzählte mir der renommierte Professor Khairallah aus eigener Anschauung, hätten die Israelis es auf Entwürdigung abgesehen gehabt. Rachid Daif, der libanesische Romancier, erklärte mir letzte Woche angesichts der beschossenen Flüchtlingskonvois verzweifelt: „Israel macht es einfach Spaß, die Araber zu erniedrigen. Sie haben ihr Vergnügen an diesen Bildern. Die Israelis wollen, dass die Libanesen sich gegenseitig ermorden wie damals im Bürgerkrieg. Sie wollen, dass die Christen und Sunniten die Schiiten der Hisbollah umbringen.“

Ich bin, wie viele Deutsche meiner Generation, aufgewachsen in absoluter Solidarität mit Israel, die nicht nur das Was guthieß, also das Existenzrecht des Staates, sondern auch das Wie, das heißt, die Praktiken, dasselbe zu sichern. Bei Graham Greene lese ich: „Sind wir loyal, so bleiben wir in den einmal angenommenen Ansichten eingeschlossen. Sind wir aber nicht loyal, dann können wir uns in jedes menschliche Gemüt versetzen. Das gibt dem Romanschriftsteller eine neue Dimension: die Sympathie.“

Im ersten Buch Mose heißt es: „Und der Herr sprach: Es ist ein großes Geschrei über Sodom und Gomorrha, dass ihre Sünden sehr schwer sind. Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist. Aber Abraham blieb stehen vor dem Herrn und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, so dass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir!“

Michael Kleeberg, Jahrgang 1959, Schriftsteller, lebt in Berlin. Er schrieb u. a. die Romane „Ein Garten im Norden“ und „Der König von Korsika“. 2004 erschien „Das Tier, das weint. Libanesisches Reisetagebuch“ (DVA )