Allein gegen die Paffia


VON SIEGFRIED SCHMIDTKE

Lustfeindlich ist Norbert Mülleneisen mitnichten. Der Lungenfacharzt ist im Leverkusener Karnevalsverein engagiert und dort mit diversen Orden und Auszeichnungen dekoriert. Der 50-Jährige wandert und liest viel und gern. Und er raucht sogar ein bis zwei Mal im Jahr ein Zigarillo mit seinem Schwager.

Ansonsten aber versteht der erklärte Nikotingegner beim Thema Rauchen keinen Spaß. Zu genau kennt er die gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Nikotingenusses aus seiner täglichen Praxis: Atemnot, Herz-Kreislaufprobleme, Asthma, Bronchitis – und natürlich Krebs, Lungenkrebs. Und er hat erkannt, dass er als Arzt „immer zu spät“ kommt. Schließlich sind Raucher Opfer einer Sucht, abhängig von der Droge Nikotin. Der Unterschied zu Kokain, Heroin und Haschisch ist die fehlende soziale Ächtung des Stoffs.

Das zu ändern, hat sich der Pneumologe auf die Fahnen geschrieben. Deshalb hat er Ende April bei der Staatsanwaltschaft Köln Strafanzeige „wegen gewerbsmäßigem Bandenbetrugs (§ 263 StGB) und gemeingefährlicher Vergiftung (§ 314 StGB)“ gestellt. Angezeigt wurden die Geschäftsleitungen und Aufsichtsräte derjenigen Firmen, die „in Deutschland Zigaretten herstellen und /oder in Verkehr bringen“. Das sind etwa JT International/Reynolds, British American Tobacco (BAT), Reemtsma, Philip Morris, aber auch der Automatenaufsteller Tobaccoland und der Verband der Cigarettenindustrie (vdc).

Ihnen wirft Mülleneisen vor, „bewusst und gezielt“ die Sucht zu fördern und Raucher in eine „schnellere und frühzeitigere Abhängigkeit vom Produkt Zigarette zu zwingen“. Durch Aromen und Zusatzstoffe wie Ammoniumverbindungen, Harnstoff, Soda oder auch Menthol werde eine tiefere Inhalation und eine „schnellere Anflutung des Nikotins im Gehirn“ bezweckt.

Aus einem Alukoffer kramt der Lungenfacharzt eine exotische Zigarettenschachtel hervor. „Riechen Sie mal!“ Die Zigaretten riechen nach Gewürznelken, etwa wie bei Glühwein. „In Indonesien ist das eine sehr beliebte Geruchsnote. Deshalb setzen die Zigarettenhersteller dort dieses Aroma ein, um mit ihren Produkten besser ‚anzukommen‘. Das wird in jeder Region, je nach Geruchsvorliebe, anders gehandhabt.“

Genau so wie die Angaben über die Inhaltsstoffe. Sechs leere Zigarettenpackungen der gleichen Sorte sind ebenfalls in dem Koffer. Aus sechs verschiedenen Ländern. Obwohl man die gleiche Marke zu kaufen scheint, sind die Angaben über Kondensat (Teer) und Nikotin höchst unterschiedlich.

Mit dem Alukoffer zieht Norbert Mülleneisen seit sechs Jahren etwa acht bis zehn Mal jährlich durch die Schulen. Dort versucht er, Kinder und Jugendliche über die Nikotinsucht aufzuklären. Bei ihnen sieht er noch eine Chance. „Einige Schüler werden nachdenklich, wenn ich ihnen das Marmeladenglas voller Teer zeige. Das ist ungefähr die Menge Teer, die ein Raucher mit täglich 20 Zigaretten in 3-4 Jahren in die Lungen inhaliert.“ Die ärztliche Aufklärungsarbeit hat sich herumgesprochen und kommt gut an in den Schulen. Weil sie glaubwürdig ist und weil sie mit „Herzblut“ erfolgt. Das Engagement wird spürbar, wenn der Arzt von „subtilen Tricks und Machenschaften“ der Tabakindustrie spricht. „Die Tabakwerbung richtet sich gezielt an Kinder und Jugendliche“, sagt Norbert Mülleneisen. „Zwar darf in Kinder- und Jugendzeitschriften nicht für Zigaretten geworben werden. Aber Berichte über die Formel 1 sind nicht verboten. Und dann gucken Sie sich mal die Fahrzeuge und Pilotenanzüge an. Zigarettenwerbung noch und noch.“

Mittlerweile liege das Einstiegsalter beim Rauchen bereits zwischen 13 und 14 Jahren. Und 80 Prozent aller Raucher hätten vor dem 18. Lebensjahr mit dem Rauchen begonnen. Erwachsene seien im Gegensatz zu Jugendlichen viel schwieriger als Neuraucher zu gewinnen. Um die Umsatzzahlen zu halten, müssten immerhin rund 390 neue Raucher täglich gewonnen werden. „So viele Menschen sterben täglich an der Nikotinsucht“, so Mülleneisen. „Man muss sich das so vorstellen: Jeden Tag stürzt ein voller Jumbojet mit Rauchern ab.“ Dabei bescheinigt der Lungenarzt der Tabak- und Zigarettenindustrie eine überaus erfolgreiche Marktstrategie. Lediglich nach dem „master settlement agreement“, der Einwilligung zum Verzicht von direkter und indirekter Zigarettenwerbung in Filmen von 1998, habe es Einbrüche in den Aktienkursen gegeben. Seitdem jedoch sei der Börsenwert stetig gestiegen.

Wie schwer es ist, einen Raucher von seiner Sucht abzubringen, hat Norbert Mülleneisen in Entwöhnungs-Selbsthilfegruppen erfahren. Nach einem Jahr wöchentlicher Treffen hat gerade mal ein Teilnehmer mit dem Rauchen aufgehört. „Das war sehr frustrierend“, gesteht der Arzt, der danach die Einsicht gewann, dass „die meisten Raucher verloren sind“.

Deshalb legt er umso größeren Wert auf Suchtprävention. Durch seine beiden Söhne, 9 und 14 Jahre alt, erfährt er immer ganz aktuell, wie raffiniert und unterschwellig jungen Menschen der Griff zur Zigarette schmackhaft gemacht wird. Das fängt beim Zigarettenautomaten an, der gleich neben dem Kaugummiautomaten steht, geht weiter über rauchende Kommissare und Filmhelden bis hin zur Love Parade, die jahrelang von der Tabakindustrie gesponsert worden sei.

„Vorbilder im Fernsehen und im Film haben eine enorme Wirkung auf junge Menschen“, weiß der Lungenfacharzt. „Und die Tabakindustrie ist sich dessen absolut bewusst.“ Mülleneisen kennt die Strategien besonders der US-amerikanischen Tabakindustrie sehr genau. Immerhin hat er einige Jahre in den USA gelebt und sein Medizinstudium mit einem Harvardabschluss gekrönt. Er kennt die Gutachten und Stellungnahmen aus den zahlreichen Schadensersatzprozessen gegen die dortigen Zigarettenproduzenten. So heißt es in einem Brief eines leitenden Filmproduzenten an RJ Reynolds Tobacco: „Film ist besser als jede Werbung, die im Fernsehen ausgestrahlt oder in einem Magazin abgedruckt wird, denn das Publikum ist sich über das Involviertsein des Sponsors überhaupt nicht bewusst.“

Dieses Verschleiern und Täuschen der Konsumenten hat laut Mülleneisen System. Ein Werbeverbot sei zwar ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, könne aber nur die offene Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche einschränken. In seiner Klageschrift und den detaillierten Ausführungen in den Anlagen werden vor allem auch die verdeckten Täuschungsmanöver der Tabak- und Zigarettenindustrie deutlich gemacht.

„Wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren eröffnet, sieht es schlecht aus für Marlboro und Co.“, ahnt der Leverkusener Arzt. Und obwohl er als „kleiner Lungenfacharzt“ gegen die mächtige Tabakindustrie quasi wie David gegen Goliath antritt, rechne er mit einer „fairen Chance“ im Strafprozess. Bei der Staatsanwaltschaft in Köln ist die Klage eingegangen und wird unter dem Aktenzeichen 62 JS 345/06 geführt. Pressesprecher Ulrich Boden: „Die Strafanzeige wird eingehend geprüft.“