Tolle Tage gibt es keine

Zu Mozarts 250. Geburtstag zeigen die Salzburger Festspiele seine sämtlichen Opern. Anna Netrebko trieb die Preise für Schwarzmarktkarten in einsame Höhen, während die Wiener Philharmoniker unter Nikolaus Harnoncourt brillierten

Deutlich zeigen sich der unaufhaltsame Alterungsprozess der Gesellschaft und die Vergreisung der „Hochkultur“

von FRIEDER REININGHAUS

Der Festspiel-Sommer 2006 schickt sich an, so manchen Rekord zu brechen. Das Opernfestival in Aix-en-Provence, ein Schaufenster französischer Kultur, verfügt zwar seit Anfang Juli mit den Berliner Philharmonikern über einen Resonanzboden der Edelklasse. Ansonsten aber wird versucht, mit Mittelklassesängern und -sängerinnen sowie harmlosen, mitunter unbedarftesten oder allzu angestaubt wirkenden Theaterformen den provençalischen Sommer zu überbrücken. Bayreuth schickt dieser Tage mit dem im 81. Lebensjahr stehenden Schriftsteller Tankred Dorst den vermutlich ältesten Opernregie-Debütanten aller Zeiten in den „Ring“. Und Salzburg bietet zum 250. Geburtstag seines wichtigsten Arbeitgebers, Wolfgang Amadeus Mozart, erstmals dessen sämtliche Opern und Musiktheater-Fragmente.

Für den ersten Höhepunkt an der Salzach sorgte auch heuer „Le nozze di Figaro“. Als sich Christoph Marthaler vor fünf Jahren dieser Oper annahm, war klar: Einen ungetrübt heiteren „tollen Tag“ gibt es nicht. Die Wirren um Figaros Hochzeit wurden aus dem Andalusien des 18. Jahrhunderts vor ein Standesamt und Schaufenster der 1970er-Jahre verlegt – in einen Wartesaal für die, welche ihre Liebe in feste gesellschaftliche Bahnen lenken wollen und denen bei diesem ehrenwerten Vorhaben der eine oder die andere in die Quere kommen.

Peter Ruzicka, Intendant der Jahre 2002–2006, ließ Marthalers Schulterschluss zu modernen Großstadtproblemen umgehend aus dem Angebot entfernte, insbesondere wegen des Einsatzes eines „Rezitativisten“, der den freier zu gestaltenden Teil von Mozarts Gesangspartien dekonstruierte. Gegenüber dieser abgründigen und von anarchischer Lust getriebenen Vergegenwärtigung musste sich das neue künstlerische Leitungsteam behaupten. Er könne „keine Spur von Politik in dem Stück erkennen“, erklärte denn auch Nikolaus Harnoncourt polemisch. Es gebe „bei Mozart keinen Hinweis auf das geistige Klima, das der Französischen Revolution vorausging“.

Damit wandte sich der Dirigent gegen eine zum Klischee gewordene Sicht auf das Werk. So genau er den originalen Notentext rekonstruierte, so blind scheint er jedoch gegenüber dem zu sein, was Mozarts Autor Beaumarchais an antifeudaler Aufmüpfigkeit und Antimilitarismus dem Libretto zumutete und was selbst noch in der aus Zensurgründen gemilderten Fassung von Lorenzo da Ponte enthalten ist. Auch dass Graf Almaviva Botschafter in London wird, aber auf gewisse feudale Privilegien verzichtet, hat fraglos mit Politik zu tun.

Der Regisseur Claus Guth vernahm die Botschaft des Dirigenten und beugte sich der Vorgabe. Sein Bühnenbildner Christian Schmidt siedelte die durchgängig entpolitisierte Geschichte im Fin de siècle an – 1896, also just in der Mitte zwischen dem Entstehungsjahr des Werks und heute. Ein imposantes Treppenhaus der Belle Epoque mit extrabreiten Stiegen beherbergt die Intrige, deren Personen geführt werden, als stammten sie von Strindberg. Harnoncourt macht in diesem zugigen Ambiente den verlangsamten Klangfluss seiner Mozart-Kommunikation heimisch: Die Entschleunigung und die Prägnanz im Detail sorgten für eine Sternstunde der Wiener Philharmoniker.

Während der Friseur im ersten Anlauf noch sein neues Wohnungsglück besingt, erfolgt der erste sichtbare Zugriff Almavivas auf seine Braut Susanna, die sich ein bisserl ziert und die hohen Avancen dennoch genießt. Als Errungenschaft von Regietheater behauptet sich die Einblendung einer Grafik, die an der Darstellung der verwirrt-verwirrenden Verhältnisse verzweifeln lässt. Das Ende der Inszenierung spielt nicht wie üblich im Schlossgarten, sondern führt die Blindheiten der Protagonisten wieder im Treppenhaus vor Augen, wo sich alle belauern können. Hintergründig agiert die Figur eines Cherubims, ein Doppelgänger Cherubinos mit Amor-Flügelchen, der nachdrücklich die belebende Wirkung des Pagen fürs erotische Geschäft unterstreicht.

Den erotischen Schmelz der Cherubino-Arien entfaltet die in kurze Hosen gesteckte Christine Schäfer mit atemberaubender Virtuosität. Ildebrando D'Arcangelo gestaltet die Titelpartie so, dass die schillernde Herkunft des Figaro ebenso wie seine Irritation als künftiger Ehemann bestens zur Geltung kommt, aber auch ein robustes Durchsetzungsvermögen. Bo Skovhus gibt einen machtbewussten und nur bedingt Sympathie erregenden, bürgerlich domestizierten Graf Almaviva. Man wartet darauf, dass Sigmund Freud in die Beschwörung dieser abgründigen Wiener Wohlstandswelt tritt, in der Susanna als nicht mehr ganz junge weiß beschürzte Hausangestellte dient.

Der Auftritt einer berühmten russischen Sopranistin in dieser Partie war von der Wiener Boulevardpresse mit größten Erwartungen vorbereitet und vom Ministerrat noch beflügelt worden: Die Bundesregierung verlieh ihr am Vortag die österreichische Staatsbürgerschaft, ohne sie gemäß europäischer Norm einem Einbürgerungstest zu unterziehen. Unter wirtschaftspolitischen Aspekten geht die Entscheidung in voller Höhe in Ordnung: Ihretwegen waren auf dem grauen Markt immerhin bis zu 10.000 Euro für eine Karte geboten worden.

Allerdings hat sie gesangstechnische Probleme: Anna Netrebko braucht immer wieder einen Moment, bis sie die Intonation in die richtige Spur bringt; und immer wieder schlägt sie ihren „Traviata“-Ton an, der wie ein Fremdkörper im ansonsten homogenen und doch sehr genau ausdifferenzierten Ensemble wirkt. Ansonsten fügt sie sich ohne Starallüren ins Ganze, wird zum dienstbaren Geist in einer insgesamt hörens- und sehenswerten Produktion. Mit ihr wurde nun das „Haus für Mozart“ eingeweiht. Es ersetzt das abgerissene Kleine Festspielhaus. Nicht auszuschließen, dass die große Halle nebenan in nicht allzu ferner Zukunft in ein Siemens- oder Nestlé-Festspielhaus (die Sponsoren der Salzburger Festspiele) umgerüstet wird.

Die erste Salzburger Woche präsentierte auch unbekannte frühe Mozart-Opern wie die unter Thomas Hengelbrocks Leitung frisch und munter musizierte Schäferidylle „Il re pastore“ oder der vom künftigen Festspiel-Chef Jürgen Flimm auf peinliche Weise in den Sand gesetzte „Lucio Silla“. Bislang deutet sich durch Ausweitung des Repertoires nicht an, dass die Musiktheatergeschichte umgeschrieben werden müsste. Das Mozart-Bild erfuhr keine substanzielle Bereicherung. Im Gegenteil: Über Krankheit und Tod werden im „Mozart Almanach“ (gut 2 Kilo schwer!) die alten Legenden weiter kolportiert und die dem harten Kern der Mozart-Gemeinde nicht genehmen Wahrheiten weiterhin ausgeblendet.

Deutlicher als zur Jahrhundertwende repräsentieren sich inzwischen an der Salzach wieder der unaufhaltsame Alterungsprozess der Gesellschaft und die Vergreisung der „Hochkultur“. Wie Bayreuth, so kennt man auch hier die Nibelungentreue zu Veteranen. Die Festspiel-Direktion ließ das Eröffnungskonzert von einem erschlafften Daniel Barenboim bespielen, delektierte die Freunde der Flöte mit der Verpflichtung des angerosteten James Galway und ließ Riccardo Muti die „Zauberflöte“ moderieren, die Pierre Audi als grellbuntes Märchenspiel ohne tieferen Kunstanspruch vor Augen führte. Ein wenig bang fragt man sich, wenn das so weitergeht, wie man die nächsten vier Wochen hier noch durchhalten kann – ästhetisch und finanziell.

Eifrig und eifernd hat Christoph Schlingensief auf seine Weise die flächendeckende Mozart-Betönung, den örtlichen Devotionalienhandel und die Modeschau der Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler kommentiert. Mit freundlichem Fanatismus führt der Zeitgeist-Pausenclown durch seine „Animatographische Installation“ im Museum der Moderne hoch über den Dächern der Festspielhäuser: Mit heiteren Parodien zur Ausstellung bedeutender Bühnenbildentwürfe, mit der Anspielung auf Hitler beim Festspielbesuch, auf Zellteilung und Ableitungen der Relativitätstheorie. Vor allem mit Eiern in unterschiedlichen Graden der Frische und Zubereitung – beim Begehen von „Hoden 1 und 2“ nasennah „erlebbar“. „Chickenballs. Der Hodenpark“ bleibt die trostlose alternative Verheißung im ansonsten gleichgeschalteten Salzburg. Das müsste nicht unbedingt eine Zumutung sein. Aber es schickt sich in diesem Jahr an, eine zu werden. So oder so.